Er wird kommen

Paul Klee hat übrigens immer wieder gedichtet. In seinen Tagebüchern notierte er Reime, die dann sozusagen ausgefüllt werden müssen.

„Gedichte epigrammatischer Natur mit den Reimen:

Gereimt / geleimt / große Pein / überflüssig zu sein.

Ich glaubte, es müßte mir wenigstens gelingen, mich selber lächerlich zu machen.

Weiter:

So ein leidend Haupt / gelber / glaubt / sich selber / tatbereit / Lächerlichkeit / erkoren / geboren / behaart / gepaart / betrogen / verlogen.“

Ob so ein gutes Gedicht gelingen kann, weiß ich nicht. Vielleicht schon; indem der Reim etwas vorgibt, ein Problem stellt, eine Art Dogma. Es handelte sich dann also um ein selbstauferlegtes Rätsel, das gelöst werden will. Trotzdem gefällt es mir besser, die Reime einfach schon als fertige unbewusste Kunst anzusehen, als Konzeptkunst. Die Anweisung zum Gedicht ist das Werk.

Yoko Ono - Gemälde für die Beerdingung

Unwetter

Es gibt bei Adorno zwei verwandte Figuren, die sich einiger Beliebtheit erfreuen. Die eine ist die der Verteidigung gegen die Liebhaber. Die Feindinnen seien nicht so schlimm, bzw. solche Banausen, dass sie keine Rolle spielten. Aber die Fans, die Kennerinnen, die Begeisterten hätten alles gerade falsch verstanden.

Die andere verwandte Figur ist jene, welche behauptet, die etwa von Neuer Musik Abgestoßenen würden die Musik noch mehr wahrnehmen als jene, welche sie wohlmeinend, aber gewissermaßen ohne richtig aufzupassen, auf ein Podest stellten, um sie zu verehren.

Die erste Figur als Auftrumpferei und Wettstreit um authentischere Anhängerinnenschaft abzutun, scheint nicht völlig verfehlt. Schließlich wird sie meist von jenen strapaziert, welche selbst große Stücke auf die Verteidigten halten, denen aber die Gesellschaft, in die sie sich damit begeben, nicht behagt.

An der zweiten ist mehr daran. Aber sie hat im Grunde dasselbe Problem. Wer sie bedient, räumt sich selbst eine Sonderstellung ein: Sie möge die Musik und habe dennoch verstanden. Jene, welche den Schock nicht nur notieren, sondern auch geschockt sind, werden zu Blitzableitern. Ihre Empörung verärgert nicht, sie beruhigt – wie das Prasseln des Regens und das Heulen des Windes jene beruhigen kann, die sich wohlfühlen in ihrem Haus.

Klüger

Ruth Klüger hat ein Gedicht geschrieben, zu Jom Kippur. Es geht darin um den Tod ihres Bruders. Die letzte Strophe lautet: „Ich war doch vor Jahren dir Jahr um Jahr Schwester, / Der du dich abkehrst, starrsinnig erstarrt, / Wo dein Sterben dich einschließt wie Stacheldraht. / Sind wir Lebenden denn den Toten Gespenster?“

In weiter leben bemerkt sie dazu, die letzte Zeile sollte mühsam auszusprechen sein und unpoetisch klingen. Sie ist wirklich nicht poetisch und kaum über die Lippen zu bringen. Lebenden denn den. Wüsste ich nicht, dass es so sein soll, würde ich denken, die Worte seien ungeschickt gewählt. Diese Entscheidung für das Schiefe imponiert mir unbeschreiblich. Sie ist das Gegenteil von Angeberei: In Kauf nehmen, dumm dazustehen. Dazu gehört intellektuelle Sicherheit. Wieso ist das Einfachste das Schwerste?

Deutung

In Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit findet sich eine Passage, in der eines der Bilder des fiktiven Malers Elstir ausführlich beschrieben wird: „Im Vordergrund des Strandes hatte der Maler die Augen daran gewöhnt, keine feste Grenze, keine unbedingte Scheidelinie zwischen Land und Meer zu erkennen. Männer, die Schiffe ins Meer schoben, schienen ebensogut auf der Flut wie auf dem Sande zu laufen, der, von Feuchtigkeit durchzogen, bereits die Schiffswände spiegelte, als ob er Wasser sei. Das Meer selbst stieg nicht gleichmäßig, sondern entsprechend den zufälligen Gegebenheiten des Strandes an, die durch die Perspektive noch mehr aufgelockert wurden, so daß ein Schiff auf hoher See halb verborgen hinter den Außenwerken des Arsenals mitten in der Stadt zu schwimmen schien; Frauen, die zwischen den Klippen beim Krabbenfang waren, sahen aus, da sie von Wasser umgeben waren und da im Vergleich zu der kreisförmigen Schranke der Felsen der Strand (an den beiden dem Lande zu gelegenen Seiten) so tief lag wie das Meer, als befänden sie sich in einer von Booten und Wellen überwölbten Grotte, die offen und doch sicher beschützt inmitten der durch ein Wunder zerteilten Wolken lag.“

So geht es noch weiter. Die Beschreibung des erfundenen Bildes, die sich nicht davor scheut, das Bild selbst genau zu malen, enthält Interpretation ohne zu interpretieren. Die Art der Beschreibung, die Wahl der Vergleiche und die Wortwahl selbst, legt Gedanken nahe, die über das Bild hinausreichen, die den Blick auf Landschaft selbst verändern. Wer diese Beschreibung gelesen hat, wird Landschaftsbilder nicht mehr mit den gleichen Augen sehen können. Es handelt sich um so etwas wie eine zeigende Ästhetik. Die Beschreibung ist dabei kein Beispiel und enthält nichts Erklärendes. Sie deutet nur wörtlich.

Vorschuss

Das Privileg der Literatur liegt darin, sagen zu können: so ist es, so hat es sich zugetragen. Wir müssen uns dann fragen; wieso ist es so, was hat es damit auf sich? Wir müssen die Motivation der Figur erschließen, uns ihr Aussehen vorstellen und ihren Eigenheiten nachspüren. Wir können nicht, wie es gegenüber einem Essay oder einer Abhandlung möglich wäre, das So-Sein der Ereignisse selbst in Zweifel ziehen.

Strapaziert eine Autorin diesen Vorschuss, den wir ihr zu geben gezwungen sind, allzu sehr, hören wir auf ihr zu trauen. Wir sagen, die Geschichte ergebe keinen Sinn. Dann können wir allerdings im Grunde nicht mehr weiterlesen. Dann sind wir draußen und nehmen keinen Anteil mehr am Leben der Figuren und dem Lauf der Geschichte.

Diese Fähigkeit des setzen Könnens bewirkt eine wundersame Verdrehung. Ein literarischer Text beschreibt ja immer nur einen kleinen Teil der virtuellen Welt, in der sich die Geschichte abspielt. Anhand der Beschreibungen, die wir erhalten, reimen wir uns alles Restliche so zusammen, dass das Gelesene Sinn ergibt. Agiert also eine Figur seltsam oder hat einen unerwarteten, überraschenden Gedanken, betrifft das nicht in erster Linie die Figur, sondern die ganze Welt muss gedanklich in Einklang mit der Eigenart der Figur gebracht werden. Das ist doch wirklich ein Vorrang des Einzelnen gegenüber dem Allgemeinen, wirklich die Gerechtigkeit, die einer jeden gebührte.

Es liegt darin aber auch etwas Harmonisierendes, gegen das sich moderne Literatur sträubt, indem sie bewusst diese Verbindung kappt. Vielleicht ahnt sie auch, dass diese Freiheit der Autorin trügt. Schließlich neigt sie doch dazu, die Figuren so denken und handeln zu lassen, dass sie nicht in Widerspruch zu ihrer Welt geraten.

Manoeuvre

Es gibt Menschen, deren Dummheit ist ihre Klugheit: zu sagen, was sie sagen, würde ihnen genaueres Nachdenken verwehren. Ein Beispiel eines solchen Menschen ist der Autor des vorherigen Satzes. Ich habe ihn impulsiv in meinem Notizbuch niedergeschrieben und als Material für Samuel Estragon markiert. Dort saß er schon seit einiger Zeit. Reflexion, heißt es da, würde den Gedanken mitunter schwächen – vertiefen aber dämpfen.

Der Gedanke hält aber genauerer Prüfung nicht stand. Erstens ist er in dieser Formulierung, die nahelegt, dass man selbst nicht zu jenen mit dieser zweifelhaften Art der Klugheit begabten zählt, überheblich und arrogant. Zweitens enthält er eine gehörige Dosis Denkfeindschaft, die dumpfe Sehnsucht nach Forschem, Direktem und einfach Gestricktem. Er gerät zu der Fantasie, welche viele grüblerische Kinder in der Pubertät entwickeln, es wäre ein Segen, dumm zu sein. In ihr paart sich Größenwahn mit Unsicherheit. Als Fantasie ist daran nichts auszusetzen. Die Erwachsene bemerkt jedoch, das sie nicht um so viel klüger ist wie sie denkt und die Kluge stellt fest, dass ihr der Verlust der Freude des Denkens das Schlimmste wäre.

Passend schiene es jetzt, den wahren Kern des Gedankens zu retten und zu versuchen, das Dumme und Angeberische wegzulassen. Ich halte es im Grunde für unmöglich und sogar für verlogen. Überheblichkeit als Bescheidenheit zu tarnen ist schlimmer als diese. Der Gedanke ist ohne sein Dummheit nicht zu haben, sollte etwas Wahres daran sein, dann nur vermittels seiner Falschheit. Wahrscheinlich steckt eigentlich mehr in der ihn verwerfenden Bewegung als im Ausgangsgedanken selbst. Nur gilt auch hier: jene nicht ohne diesen.

Danse spirituelle

Der Gedanke reizt, Denken wäre eine Art des Tanzes.

Jedes künstlerische Tun ist in gewisser Hinsicht ein Tanz. Valéry schlägt in La philosophie de la danse vor, die Hände musizierender beim Spielen ihres Instruments zu beobachten, die Musik auszuschalten und nur auf die Bewegung der Finger zu achten. Hat er nicht recht, wenn er meint, die Gesetzmäßigkeit der Bewegung, der Rhythmus, das Zielgerichtete ließen sich erkennen, es handelte sich um einen Tanz der Finger. Und es stimmt wohl, dass sich ähnliche Ordnungen in anderen Bereichen genauso finden lassen: beim Malen, beim Schreiben – beim Denken. Übrigens ist der Tanz dagegen einfach Tanz, er hat keinen Tanz.Vielleicht ist es beim Denken genauso. Es mag den Tanz den die Denkende vollführt, wenn sie denkt. Das Auf- und Abgehen, der schweifende Blick, das Streichen mit dem Finger über die Augenbrauen. Aber wäre es nicht interessanter – sicherlich diesem Gedanken selbst angemessener – das Denken selbst schon als geordnete Bewegung zu verstehen, als Tanz. Das Denken zu denken als den Tanz des Geistes, der andere Vorgänge begleitet und fundiert. Schließlich wird allerhand Tun von Denken begleitet: kein Kochen ohne Denken. Aber Denken selbst nicht, denn es ist es schon.

Dann wäre Denken zu beurteilen wie eine Choreografie.

Belangloses

Wieso eigentlich ästhetische Theorie? Wieso über Kunst nachdenken? Die Frage ist nicht bloß rhetorisch, sie ist – entgegen dem abgeschmacktem Sujet, Philosophie stelle nur Fragen – im Ernst zu beantworten. Leider sind die Antworten unbefriedigend. Manche so sehr, dass ich sie nicht einmal gründlicher in Erwägung ziehen will. Etwa die, man könne von der Betrachtung der Kunst etwas lernen, ein Geheimnis über Gesellschaft vielleicht oder wie zu leben sei.

Nicht von der Hand zu weisen ist jedenfalls die Feststellung, dass Denken sich ohnehin nicht so recht lenken lässt. Es verhält sich in geistigen Dingen keineswegs so, dass erst ein dem Denken würdiger Gegenstand ausgemacht wird, den es daraufhin denkend zu beackern gilt. Zum einen ist diese Auswahl dessen, worauf denken sich richten soll, selbst ein denkender Vorgang und zum anderen, und das ist der triftigere Einwand, taucht ein Problem in der Regel eher von sich aus auf, drängt sich vor, sagt: ich bin wichtiger als andere Rätsel, mach mich zuerst.

Das Problem ist aufdringlich, es findet sich übrigens nicht wichtiger, weil es gewichtiger ist, weil es mehr Einfluß auf den Lauf des Lebens hätte oder dergleichen, etwa derart wie chinesische Wirtschaftspolitik relevanter ist als die Verfilmung von Fifty Shades of Grey. Weder ist es ingsgesamt von Belang oder aktuell, noch muss es für das persönliche Leben der Denkenden wichtig sein. Aber es lässt trotzdem einfach nicht locker, indem es den Geist herausfordert, es birgt eine Art Geheimnis, sagt eigentlich: ich weiß, ich weiß, was du nicht weißt. Das kann sich auch als Lüge herausstellen. Kunstwerke wollen jene Gerechtigkeit, die darin liegt, sie ohne Grund anderen vorzuziehen. Nicht nur sie.