Bild

Zeichen und Mahl

Ihr war als zitterte das Reh, das sie beschlich. Aber falls das Jungtier zitterte, dann nicht wegen ihr, denn der Wind blies ihr ins Gesicht und sie rührte sich nicht. Der Himmel war von einem tiefen Blau, wie es die Alten nicht mischen konnten, die sich an die Farben der Erden und Pflanzen hielten: Distelrot, Glutrot, Eisenocker, Nussbraun, Bastgelb, Ginstergelb. Für das Nachtblau dieses Morgenhimmels fehlte ihnen das Pigment.
Sie legte den Pfeil auf den Bogen und atmete ruhig. Das Reh hob den Kopf und sah sie aus schwarzen Augen an. In einer geschmeidigen Bewegung spannte sie das biegsame Birkenholz und schickte den Pfeil auf den Weg. Er passierte Farne, Sträucher, Brombeerranken – ein Zitronenfalter wich ihm aus – und fraß sich durch das Fell, durch die Haut, durch das Fleisch ins Herz.
Das Reh stand einen Moment so da, den Pfeil in der Flanke, ein hellroter Punkt darunter und brach zusammen. Sie kam näher, beugte sich über das Tier und zog den Pfeil aus dem leblosen Leib. Der Zitronenfalter setzte sich in das schwarze Auge und seine Beine versanken im feuchten Glaskörper. Bissen sich fest wie Widerhaken im Fleisch eines Fisches.
Sie schnitt dem Reh die Kehle auf und sein warmes Blut mischte sich mit der Erde zu dunklem Kastanienbraun. Der Falter steckte immer noch in der starren Pupille. Sie vertrieb ihn nicht, sondern ließ ihn stecken. Ihr gefiel, wie er seine Beinchen in das Auge grub und die Flügel wetzte. Der Körper des Rehs war zu schwer, um ihn alleine zu tragen, also kehrte sie ins Dorf zurück.
Im Dorf berichtete sie den Anderen, wo sie das Tier erlegt hatte. Dann holte sie aus ihrer Hütte Erdpigmente, Mischschalen und eine Fackel. Sie entzündete die Fackel und stieg zur Höhle hinauf, in der die erlegten Tiere sich an den Wänden tummelten. Ihre flachen Leiber zuckten im Feuerschein. Zwischen zwei Gämsen fände das Reh Platz. Sie mischte die salzigen Erden mit ihrem Speichel, malte mit dem Zeigefinger die kohlernen Umrisse des Tiers an die Wand und färbte den Körper gelb. Gerne hätte sie die schwarzen Augen gemalt und den Zitronenfalter, aber ihre Finger waren zu dick. Sie lachte. Ihr Reh sah aus wie eine hornlose Gazelle.

Foto: Blau und rot bemalter Schiffsrumpf mit Rostflecken.

Deutung

In Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit findet sich eine Passage, in der eines der Bilder des fiktiven Malers Elstir ausführlich beschrieben wird: „Im Vordergrund des Strandes hatte der Maler die Augen daran gewöhnt, keine feste Grenze, keine unbedingte Scheidelinie zwischen Land und Meer zu erkennen. Männer, die Schiffe ins Meer schoben, schienen ebensogut auf der Flut wie auf dem Sande zu laufen, der, von Feuchtigkeit durchzogen, bereits die Schiffswände spiegelte, als ob er Wasser sei. Das Meer selbst stieg nicht gleichmäßig, sondern entsprechend den zufälligen Gegebenheiten des Strandes an, die durch die Perspektive noch mehr aufgelockert wurden, so daß ein Schiff auf hoher See halb verborgen hinter den Außenwerken des Arsenals mitten in der Stadt zu schwimmen schien; Frauen, die zwischen den Klippen beim Krabbenfang waren, sahen aus, da sie von Wasser umgeben waren und da im Vergleich zu der kreisförmigen Schranke der Felsen der Strand (an den beiden dem Lande zu gelegenen Seiten) so tief lag wie das Meer, als befänden sie sich in einer von Booten und Wellen überwölbten Grotte, die offen und doch sicher beschützt inmitten der durch ein Wunder zerteilten Wolken lag.“

So geht es noch weiter. Die Beschreibung des erfundenen Bildes, die sich nicht davor scheut, das Bild selbst genau zu malen, enthält Interpretation ohne zu interpretieren. Die Art der Beschreibung, die Wahl der Vergleiche und die Wortwahl selbst, legt Gedanken nahe, die über das Bild hinausreichen, die den Blick auf Landschaft selbst verändern. Wer diese Beschreibung gelesen hat, wird Landschaftsbilder nicht mehr mit den gleichen Augen sehen können. Es handelt sich um so etwas wie eine zeigende Ästhetik. Die Beschreibung ist dabei kein Beispiel und enthält nichts Erklärendes. Sie deutet nur wörtlich.

Pendu

Dinge sind auch nur Menschen. Jene erlösen hieße diese erlösen. Die selben Dinge in ein anderes Licht rücken. Das Verhältnis zu den Dingen prägt das Verhältnis zwischen den Menschen vor. Es ist fraglich, ob das Zertrümmern von Gegenständen an den versteinerten Verhältnissen rüttelt. Vielleicht bedürfte es eher einer bestimmten Art von Zärtlichkeit.

Entsprechend ist die Gewalt gegen Dinge virtuell die gegen Menschen. Es gibt einen Witz von Karl Farkas, in dem es so zu geht. Der Kabarettist beschreibt ein Bild vom Schlage der Bilder, die Dinge zeigen, die es gar nicht gibt – wie brennende Eisberge oder Maurer bei der Arbeit. Dieses Bild zeigt eine Landschaft, in der alle Farben verdreht wurden. Die Wiesen auf der Leinwand sind blau, der Himmel gelb, die Bäume rot und der Titel des Bildes lautet: im Grünen. Ich verstehe ja, so Farkas weiter, dass der Künstler das so gesehen hat und ich sehe auch ein, dass er es so gemalt hat, nur verstehe ich nicht, warum man es aufgehängt hat: vielleicht, weil man den Künstler nicht erwischen konnte?

Tâches I

Unvorstellbar: jemand sagte, angesichts etwa Cézannes Mont Sainte-Victoire, da wäre ein seltsamer Fleck. Wohl ein Fehler Cézannes, der Fleck sehe komisch aus, vielleicht stattdessen eine andere Farbe verwenden oder den Fleck überhaupt weglassen. Der Fleck wirke irgendwie aufgeklatscht, als wäre er nicht auf dem Berg, sondern auf die Leinwand geraten. Jedenfalls wäre das eigenartig, da hätte er sich etwas überlegen müssen.

Eine Ansage, die allerdings als Bemerkung an einer Kunstuniversität gegenüber dem Bild einer Kollegin keinerlei Aufsehen erregen würde. Wenn Cézannes einen Fleck malt, wird die Theorie so angepasst, dass der Fleck sie geradezu konstituiert, während sich die meisten gegenüber nicht-etablierten Kolleginnen herausnehmen, was ihnen nicht in den Kram passt oder nicht einleuchten will, als Makel des Werkes zu bemängeln.

Diese besondere autoritäre Überheblichkeit ist übrigens außerordentlich verlockend und es ist ihr schwer zu widerstehen. Die Notwendigkeit von Feedback oder prägnanter Kritik als Voraussetzung von Weiterentwicklung ist die recht durchsichtige Rationalisierung eines Sadismus gegen Kunstwerke schlechthin, der ausgelebt wird, sobald das Werk sich schwach zeigt, in statu nascendi oder als von Institutionen und großen Namen noch ungedecktes.

Feedback, mit dem künstlerisch etwas anzufangen wäre, das ins Innere des Gebildes vordränge, erkennte die scheinbaren Schwächen als Momente der potentiellen Stärke des Werkes.

Encore III

Aus dem Wiederholungstabu, dem Kraftverlust des sich bloß wiederholenden Denkens, ergibt sich eine Art Druck nach vorne: Ein Zwang zum Nächsten und Anderen. Ist die Wahrheit eines Gedankens – kaum gedacht und schon verglüht, einen Moment lang nur aufgeflammt – seinem Wesen nach flüchtig, kann es nie zur Ruhe kommen. Denken wird so, aufgrund seiner immanenten Dynamik, weiter gedrängt. Dieser Impuls müsste wahrgenommen werden, ohne seinem Gebot sogleich willfährig zu gehorchen. Vielleicht hieße Denken paradox gerade, sich der Bewegung des Denkens zu widersetzen. Auch hier liegt Wahrheit im Abgebrochenen und Abgelenkten, im Umweg und im Stocken.

Hintergrund

Ende der 80er Jahre fertigte der Maler Albert Öhlen eine Reihe von gegenständlich durchhuschten ungegenständlichen Bildern an. Ein dichter Film aus Farben wirkt, als wäre etwas recht gründlich übermalt. In diesem dichten Vordergrund lassen sich Gestalten ausmachen, sowie Elemente, die auf Perspektive hindeuten. Dadurch entsteht der Eindruck einer verhinderten Tiefe. Es wird in den Bildraum verwiesen, doch der bleibt verdeckt, unzugänglich und hinter der festen Farbschicht verborgen.

Aber an einigen Stellen ist dieser hartnäckige Vordergrund löchrig und scheint den Blick freizugeben auf die Hinterwelt, eine Landschaft oder den Bühneninnenraum. Wer ein Loch entdeckt, findet bald ein zweites kleineres und vielleicht ein drittes, nur halb durchbrochenes, matteres – mag sein es ist noch gar keines.

Gerhard Richter’s Painting

Selten, dass in allen Nachrichten über ein Bild berichtet wird, wenn es nicht gerade gestohlen oder beschädigt wurde. Aber anscheinend genügt ein eindrucksvoller Verkaufspreis eines Werkes, damit unterschiedlichste Nachrichtenformate sich plötzlich für Kunst interessieren. Wer dabei freilich auf eine Beschreibung oder gar Analyse des Bildes hofft, kann lange warten. Meistens scheint bereits das Nennen des Preises ausreichende Information über das Gemälde darzustellen, allenfalls wird noch der Titel des Stückes genannt: Abstraktes Bild (809-4). Hat dann doch jemand das Gefühl, zumindest ein beschreibender Satz müsse der Nachricht den Eindruck von Tiefe verleihen – wir reden hier schon von der seltenen Ausnahme – wird auf die Anmoderation des Auktionsleiters zurückgegriffen, der das Stück als „combination of outstanding provenance and gold-standard quality“ anpries. Meint: es wird von einem Star verkauft, nämlich Eric Clapton, und wurde von einem Starkünstler gefertigt. Ein Garant für ein reinrassiges Chef d’Œvre.

Und wenn man sich das Bild so ansieht, überraschen diese sehr vagen Bestimmungen, die weniger vom Inhalt des Werkes als von seinem gesellschaftlichen Rang handeln, kaum. Das großformatige Bild kommt auf Aufnahmen nicht sehr gut zur Geltung und lebt wohl zum Teil vom zu erahnenden Farbauftrag. Allerdings lässt sich doch sagen, dass das Werk einigen Interpretationsspielraum offen lässt. Es ist ein bisschen alles und nichts, erfüllt aber die wesentliche Voraussetzung, die ein Museumsstück heute erfüllen muss, um erfolgreich zu sein, Zuordenbarkeit. Könnte es in der Sprache der Menschen sprechen, würde es sagen: „Ich bin ein Richter. Ich bin groß und bestehe aus vielen übereinandergelegten Farbschichten. Ich bin stolz darauf, dass man mir die Arbeit ansieht, die ich bedeutete. So stolz und groß stehe ich da, ein Richter.“ Wenn ein Werk einer Künstlerin diese eine Voraussetzung erfüllt, das jedes ihrer Werke erkannt und ihr zugeordnet werden kann und es derart eine dichte Marke bildet, dann kann ihr bestimmter Inhalt durch den Tauschwert ersetzt werden. Es reicht dann den Preis zu nennen und alles was über ein Bild zu sagen ist wurde gesagt. Der reine Erfolg kann so an die Stelle des Werkes treten und nur auf diese Weise wird heute ein Werk erfolgreich. Fetischismus in der Museumskunst.

Balance

Beim Zeichnen von Menschen, Tieren und Gegenständen hängt einiges von der richtigen Proportion ab. Beim Portrait muss nur ein Auge zu groß geraten und die ganze Perspektive ist beim Teufel oder der Gesichtsausdruck ist grimassenhaft verzerrt. Ist der Kopf eines Tiers im Verhältnis zum Körper überdimensioniert, wirkt das ganze Wesen verstümmelt und seltsam unheimlich. Dabei kann es schon auf kleinste Unterschiede ankommen. Einige Millimeter können mitunter das ganze Bild disproportional erscheinen lassen.

Ganz ähnlich ist es beim Denken und Formulieren. Einiges hängt ab von der Balance zwischen der Insistenz des Denkens, dem gedanklichen Beharren auf einem Punkt und dem rechtzeitigen Übergang zum nächsten oder dem Zurücktreten, um sich prüfend den Komplex als ganzen vor das geistige Auge zu stellen. Bei einem Text ist das Verhältnis seiner Teile zueinander von großer Wichtigkeit. Ein unwesentlicher Teil, der zu lang ausfällt, während Wichtiges zu kurz kommt, erweckt sofort den berechtigten Eindruck, das Entscheidende wäre umgangen worden. Dabei kann schon ein Satz den Textcharakter zum Kippen bringen.

Selbst einzelne Worte müssen nach ihrem Gewicht tariert werden. Ein Wort kann zu schwer sein und einen Satz ungerechtfertigt dominieren. Es kann auch eines anderen Wortes bedürfen, um durch eine derart aufgebaute Spannung austariert zu werden. Auch Satzkonstruktionen können den Schwerpunkt eines Satzes an die falsche Stelle verlagern, sind sie zu dezent oder zu aufdringlich.

Beim Zeichnen wie beim Schreiben und Denken, hängt alles davon ab, jeden Strich und jedes Wort auf sein Verhältnis zur Umgebung zu prüfen, um es dann zu behalten oder zu verwerfen. Dieses Verhalten ist Denken in seinem vollen Sinn: es geht in den Text oder in die Zeichnung ein als Negation des Falschen.

Autophilie

Zwischen autoritärem Denken und der Liebe zu Autos gibt es einen eigenartigen Zusammenhang. Die Verbindung muss unterirdisch verlaufen, denn äußerlich ist sie nicht zu erkennen. Sie verrät sich nur als eine Synchronizität, als ein auffallend häufiges gemeinsames Auftreten eben der Autoliebe und einem Hang zu geistiger Starrheit und Brutalität. Freilich kann hier nur von einer bestimmten Art der Verherrlichung des Automobils die Rede sein. Denn es gibt auch den freundlicheren, den eher magischen Bezug zu dem Vehikel, das dann gerne vermenschlicht, ja mit Namen getauft und angesprochen wird.

Aber die Faschistin bewundert anderes am Auto. Die Expressionistin Marie Holzer hat es als den Anarchist unter den Gefährten bezeichnet. Es ist der „Sieg der Kraft über die Pedanterie vorgeschriebener Grenzpfähle, ein Überschlagen, Überspringen langsamer Entwicklungsstadien, ein plötzliches Emporwachsen, ein herrisches Bejahen eines Gedankens, der uns emporträgt, der sich zum Bedürfnis aufgezwungen. Ein glänzender Rekord der Technik, die uns bewiesen, daß persönlicher Wille zum Gesetz werden kann, werden muß; daß Kraft, Stärke und Überzeugung über alles mühsam Zusammengetragene und mühsam Erworbene hinweggeht, hinwegsaust…“ Und der Futurist Filippo Tommaso Marinetti erklärt in seinem zutiefst antifeministischen und sexistischem futuristischen Gründungsmanifest: „Wir erklären, dass der Glanz der Welt sich um eine neue Schönheit bereichert hat: um die Schönheit der Schnelligkeit. Ein Rennautomobil, dessen Wagenkasten mit großen Rohren bepackt sind, die Schlangen mit explosivem Atem gleichen, das auf Kartäschen zu laufen scheint, ist schöner als die ‚Nike von Samothrake‘.“

Dieser Anarchismus hat nichts von Herrschaftsfreiheit, eher schon ist er der Inbegriff der Herrschaft: der Herrschaft der Maschinen, dessen, was über die Menschen hinweggeht, des Sichhinwegsetzens, des ungestümen und kopflosen Voranrollens. Marinetti vergleicht das Auto mit Tieren, mit Schlangen, lebendig und gefährlich aber ohne Vernunft. Das ist es, was am Auto bewundert wird – es verkörpert den toten Fortschritt, den zermalmenden Fortschritt der Maschinen, der ohne gesellschaftlichem keiner ist. Diese Bewunderung ist gespiegelte Menschenverachtung. Sie zieht die Technik, in der es ein Weiterkommen gibt – sei es auch, oder eher gerade, ein blindes, kopfloses; zumindest ist es ein Voran – der Gesellschaft der Menschen vor, die versteinert ist. Die Liebe zum Auto ist eine versteckte Identifikation mit dem Bestehenden schlechthin, welche die Unerträglichkeit erträglich machen soll, dass doch zu ändern wäre, was nicht aufhört, die Menschen zu verstümmeln.