Sunny Side Up

Schill schlug das Ei in die Pfanne und wartete, bis das Eiweiss erweißte. Dann drehte er den Herd ab. Sowie die Oberfläche nicht mehr klitschig war, fuhr er mit dem Pfannenwender unter das Spiegelei und legte es auf den Teller. Das Eigelb glänzte, wartete wohl darauf, mit einem Stück Toast aufgestochen zu werden und den Teller orange einzufärben. Schill nahm einen Schluck Kaffee (viel Zucker, keine Milch). Die Toastscheibe sprang aus dem Toaster und Schill musste hingreifen, damit sie nicht unkontrolliert auf den Tisch fallen und womöglich vom Tisch auf den Boden rutschen würde. Er riss ein spitzes Randstück ab, aber brachte es nicht über sich, das Dotter zu zerstören. Irgendwie kam es ihm vor, als würde er damit die Sonne aus dem Himmel schießen. Den Toast aß er mit Butter und Schinken, den Teller mit dem unangetasteten Ei stellte er neben das Gewürzregal.

Lachspiel

Sich in die Augen sehen bis eine lacht und wer lacht hat verloren, ein Kinderspiel. Es ist wohl Einübung in Sublimierung, Genuss des Aufschubs. Das Prinzip des Spiels ist jenem dieses Textes, der mit der Pointe gleich am Anfang herausrückt, entgegengesetzt. Je mehr sich das Lachen versagt wird – und ja nicht für alle Zeit, sondern mit dem fast sicherem Wissen um langes erleichterndes Lachen, wenn jemand nicht mehr kann –, desto mehr steigern sich die Spannung und die Lust. Wer sich im Griff hat, wird belohnt: Die Grenze der Lust ist also eigentlich nur die eigene Fähigkeit, Lust aufzuschieben. Also wirklich Einübung in Sublimierung.

Manchmal kommt es allerdings vor, dass die Spannung seltsam abflaut. Jemand hat sich so im Griff, dass sie nicht mehr Gefahr läuft, zu lachen. Vielleicht denkt sie an etwas anderes, hat mentale Techniken entwickelt, sich vom Geschehen zu dissoziieren. Aber dann ist es auch aus mit der Lust und mit der Spannung. Die Partnerin, so sie folgen konnte, verliert ihren Drang genauso. Dann ist es ein Gegenübersitzen, das mitunter lange anhalten kann.

Es ist allerdings nicht ungewöhnlich, dass die Technik plötzlich versagt, sich nach langer Zeit wieder eine Spannung aufbaut, die sich aufschaukelt und die wiederum abfallen kann oder plötzlich durchbrechen. Es ergibt sich ein Rhythmus wie Ebbe und Flut. Also doch nicht nur Sublimierung und unter Umständen keine richtige Pointe.

Gelingen

Ich erinnere mich an ein Gespräch mit meiner Tante, ich muss ungefähr zwölf Jahre alt gewesen sein. Die Erinnerung ist sehr dunkel und das Wenige, das ich erinnere, hat wohl nie in dieser Form stattgefunden. Jedenfalls war ich auf etwas stolz, auf irgendetwas, das ich gelernt hatte oder das ich gemacht hatte und habe ihr davon in großen Tönen erzählt. Aber anstatt eines Lobes, das ich mir wohl gewünscht hätte, bemerkte sie nur, man solle bescheiden sein.

Seitdem hat mich Bescheidenheit immer wieder beschäftigt. Ich weiß nicht, ob man bescheiden sein soll, vielleicht kann man es gar nicht. Es gibt eine Form der Bescheidenheit – man könnte sie falsche Bescheidenheit nennen aber womöglich ist es die einzige, die es gibt –, die mich besonders stört. Manchmal liest man oder hört man Sätze, die bescheiden klingen wollen und insgeheim prahlen. Paul Klee etwa beschreibt in seinen Aufzeichnungen Vierzeiler, die er als Jugendlicher geschrieben hatte als „schlechte und echte Kunst“. Die Beschreibung gibt nicht so sehr mit den Gedichten an als mit der Bescheidenheit. Ich glaube, das stört mich, nicht der Stolz, „echte Kunst“ geschaffen zu haben, der mit der Abqualifizierung der „schlechten“ erkauft wurde, sondern die zur Schau gestellte Bescheidenheit. Es ist eine angeberische Bescheidenheit.

Echte Bescheidenheit hieße doch eigentlich, die eigenen Stärken gar nicht erst zu bemerken, also ein unrealistisches Verhältnis zu den eigenen Fähigkeiten zu haben. Das kommt mir wenig wünschenswert vor. Vielleicht ist Bescheidenheit also per se verlogen. Zugutehalten muss man ihr die Zurückhaltung, die sie verlangt, ein Stück Zivilisierung. Aber sie ist doch in erster Linie eine Spielverderberin, denn was ist falsch an der Freude des Gelingens, einem sicher kindlichen Vergnügen? Es zeigt sich schon: Ich werde weiter daran zu kauen haben.

Fruchtsaft

„… und ich ging dann unauffällig sagen, man möge den Fruchtsaft bringen; meine Großmutter legte Wert darauf, sie fand es liebenswürdiger, wenn es nicht so aussah, als wäre er nur ausnahmsweise und nur des Besuches wegen auf den Tisch gebracht worden.“

Höflichkeit, die den Verwöhnten nichts merken lässt, sich selbst verbirgt, um das auftrumpfend Beschämende zu vermeiden, das sie begleitet, wenn die Höfliche als Höflichere in Erscheinung tritt, zeugt von Einfühlungsvermögen, zarter Rücksicht und Freundlichkeit.

Es gibt auch eine brutale Höflichkeit. Die Höflichkeit dessen etwa, der vor seinem Essen sitzen bleibt, ohne es anzurühren. Er gibt zu verstehen: Tierisches wie Hunger ist mir fremd, aber fresst euch ruhig satt. Diese herablassende Höflichkeit gibt Anderen das Gefühl, unhöflich zu sein, nicht vornehm und nicht fein.

Die höchste Form der Höflichkeit ist demnach ungehobelte Rücksicht und unaufdringliche Freundlichkeit. Diese Vornehmheit kommt ohne Klassendünkel und den ungerechtfertigten Stolz auf des Privileg aus, der Manieren mitunter anhaftet. Sie findet sich gleich verteilt in allen Schichten.

Angst

„Am stärksten wuchert die Angst, es ist nicht zu sagen, wie wenig man wäre ohne erlittene Angst. Ein Eigentliches des Menschen ist der Hang, sich der Angst immer auszuliefern. Keine Angst geht verloren, aber ihre Verstecke sind rätselhaft. Vielleicht ist von allem sie es, die sich am wenigsten verwandelt. Wenn ich an die frühen Jahre denke, erkenne ich zuallererst ihre Ängste, an denen sie unerschöpflich reich waren. Viele finde ich erst jetzt, andere, die ich nie finden werde, müssen das Geheimnis sein, das mir Lust auf ein unendliches Leben macht.“ So formuliert Canetti in seinen Jugenderinnerungen, der geretteten Zunge, wenig materialistisch und wohl mit skeptischem Seitenblick zur Psychoanalyse, für die sich wenig mehr verwandelt als die Angst.

Doch einmal angenommen, es sei einiges daran und die Angst und die Entdeckung der eigenen Ängste, bildeten einen mächtigen Lockruf des Lebens, dann ergebe sich ein eigenartiger und reizvoller Gegensatz zur vielleicht meist genannten Chiffre der Utopie in der Kritischen Theorie: ohne Angst verschieden sein. Eine andere, weniger bekannte, teilt sie mit Canetti, die, von der Abschaffung des Todes – geheimnisvolle Angst, die Lust macht auf unendliches Leben.

Zu sagen allerdings, Angst sei dem Menschen ‚eigentlich‘, bereichere ihr Leben und ohne sie wäre es klein und arm, tönt seltsam resignativ; als wolle der so spricht sich mit dem Elend befreunden und aus der Not eine Tugend machen. Es klingt eigentlich eben nach denselben Gründen, welche die Verteidigerinnen des Todes zu dessen Rettung anführen.

Die Schwäche des Arguments sagt allerdings wenig über den zugrunde liegenden Impuls. Vielleicht ist er eben unverstanden. Jedenfalls gehört die Angst dem Reich des Lebens an. Heißt es nicht, die Mutter aller Ängste sei die Todesangst? Sie deutet auf Gegensatz wie Einheit.

Phantasie

Neuere Serien und Filme erzeugen zum Teil eine beeindruckende Intensität. Es gibt Szenen, die verstören und erschüttern. Sie lassen die Zuseherin tagelang nicht los, sie machen Angst und zwar augenblicklich und nachwirkend. Ein Teil des Publikums meidet deshalb manche Sendungen und Filme, ein anderer sucht gerade nach diesem Erlebnis, das intensiver erscheint, als die Wirkung der Ereignisse im eigenen Leben.

Sicher gab es diese Brutalität in gewisser Weise schon immer, aber nicht in dieser Alltäglichkeit. Die psychologische Wirkung eines Hitchcock-Films sticht als Ausnahme hervor wie die Harmlosigkeit von Krimiserien noch in den 90er-Jahren. Heute dagegen wird allerorts gefoltert und gequält, die Filme verstärken die Grausamkeit noch durch 3D-Effekte und aufwendige Computeranimation: Blut spritzt, Köpfe fliegen einer entgegen usw.

Die Konservativen haben seit je eine Verrohung der Jugend beklagt, die sich an Sex, Gewalt und dergleichen erfreue; vielleicht eine Projektion der eigenen Verängstigung sowie der Versuch, sich der eigenen Härte zu vergewissern: Ich vertrage es ja, aber die Kinder! Wohl auch eine Abwehr von Sadismus – Scham, Gewalt genießen zu können. Auch Prüderie – Scham, Sex genießen zu können.

Trotzdem ist schwer zu verstehen, wie das junge Mädchen im Kinosaal sich an fliegenden Werwolfgehirnen erfreuen kann, während sich die Erwachse Frau daneben verstört an die Armlehnen des bequemen Kinosessels klammert. Vielleicht ist es, entgegen dem Cliché, doch so, dass Kinder besser zwischen Spiel und Wirklichkeit unterscheiden können. Alles für voll nehmen ist schon ein Symptom verarmter Phantasie.

Der Ratschenker

Der Ratschenker schenkt oft und gerne und immer ausgewählte Geschenke. Über jedes Geschenk denkt er lange nach und findet etwas, das genau auf den Beschenkten oder die Beschenkte passt. Entscheidend dabei ist, dass das Geschenk das Leben der Beglückten auf den richtigen Pfad lenkt. Sie wissen nicht, was sie wollen oder brauchen, er aber weiß es.

Menschen fällt oft gar nicht auf, was in ihrem Leben schief läuft, dem Ratschenker schon, bevor sie sich auch nur unwohl fühlen. Jedoch hütet er sich, die Unglücklichen davon etwas merken zu lassen. Dazu ist er zu höflich. Er will sich niemand aufdrängen, hört geduldig zu, lächelt viel und sagt wenig. Wenn er etwas sagt, dann eine Ermutigung oder ein paar freundliche Worte.

In Gedanken ist er längst beim nächsten Geburtstag, bei Weihnachten oder Ostern. Wenn Not am Mann ist, braucht er auch keinen besonderen Anlass. Er ist stolz, auch einfach so aus Freundlichkeit Geschenke zu überreichen. Aber dann nur eine Kleinigkeit, alles andere wäre anmaßend. Doch etwas Kleines ist oft wirksamer als das teuerste Hochzeitsgeschenk.

Oft reagieren die Beschenkten kühl auf die Geschenke des Ratschenkers. Er kann sich das nicht erklären, hat er die Gabe doch mit so großer Sorgfalt ausgewählt und immer nur das Beste der Undankbaren im Sinn. Dann wird er traurig und auch ein bisschen wütend. Er sagt aber nie etwas, sondern schreit in seiner Wohnung die Wand an oder schreibt lange Briefe, die er nicht abschickt. Er wird einfach bei nächster Gelegenheit ein noch besseres Geschenk finden.

Schlicht und Gonflé

Version I

Am Tanzfilm wie am Musikfilm mutet seltsam an, wie die Welt eigenartig gleich und anders zugleich ist. Sie ist nur ein klein wenig verschoben, verrückt. Plötzlich zu tanzen, womöglich noch in einer Choreographie, an der alle umstehenden wie magisch teilnehmen, scheint in der Fantasie selbstverständlich, die natürlichste Reaktion von allen. Das ist befreites mimetisches Verhalten mitten in der Welt, wie sie ist. Es ist der Durchbruch dessen, was auch sein könnte. Der englische Ausdruck „to burst into dance“ weiß davon.

Version II

Der Tanzfilm und der Musikfilm reizen, indem sie verändern, was in ihrer Welt als normal gilt. Plötzlich ein Lied anzustimmen, bei dem sich noch dazu alle umstehenden Beteiligen, ist in der Welt des Musikfilms selbstverständlich und wird sogar erwartet. Die Welt ist gleich und doch in diesem Punkt anders. Es ist wohl die Stärke dieser Filme, ganz abwegiges Verhalten so zu behandeln, als wäre es das Natürlichste; und dabei niemand auf den Gedanken kommen zu lassen, es wäre eigentlich ganz absurd.

Lustprinzip

Die nicht wenig verbreitete Auffassung, Widerstand und politische Aktion müssten lustvoll sein, hat auch ihr Infantiles. Es soll nicht sublimiert werden müssen. Aus dieser Sicht fällt überhaupt zu vieles verdächtig günstig ineinander: Was gut für mich ist, ist gut für die Welt; wenn es mir gut geht, kann ich mehr Verändern und dergleichen.

Wenn die aus der berechtigten Kritik der Lustfeindlichkeit erwachsene Rede vom Lustvollen der Politik ihren Platz haben sollte, dann müsste es sich doch letztlich eher um sublimierte Lust handeln: Lust am Denken, Lust an der Verweigerung.

Allerdings: Vielleicht kann Verweigerung in diesem Sinn nicht lustvoll sein. Denn schließlich verlangt Sublimierung den Subjekten stets ab, ihre Lust in anerkannte Bahnen zu lenken. Und darin ist sie ihrem Begriff nach bereits affirmativ. Psychoanalytisch betrachtet gibt es keinen Verzicht – die Lust wird immer nur aufgeschoben, in der Hoffnung, später um so mehr genießen zu können.