Es klappern die Mühlen

am rauschenden Bach, am rauschenden Bach, am rauschenden Bach. Es klappern die Mühlen am rauschenden Bach, am rauschenden Bach klappern die Mühlen. Ein Kitzchen steht am rauschenden Bach, am rauschenden Bach, am rauschenden Bach. Ein Kitzchen steht am rauschenden Bach und streckt sich nach einer Distel. Nach einer Distel am rauschenden Bach streckt sich das Kitzchen am rauschenden Bach, streckt sich nach der Distel. Es klappern die Mühlen am rauschenden Bach und das Kitzchen streckt sich und streckt sich und rutscht, rutscht ab in den rauschenden Bach, in den rauschenden Bach, am rauschenden Bach klappern die Mühlen.

Die Sonne hatte

das Gras ausgedörrt und die braunen Stengel stachen ihm in die Fußsohle, ritzten ihm die Hornhaut ein. Bremsen setzten sich ihm auf den Rücken, an die Schwarte an der Seite und bissen durch das T-Shirt. Dieses Jahr war es besonders schlimm. Oder kam es ihm nur so vor? Die Luft war trocken und heiß, voll vom Geruch der Föhrennadeln, die den Bodenbereich um den Tisch wie ein Leintuch bedeckten. Er setzte sich. Das war sein Platz, würde wohl für den Rest seines Lebens sein Platz bleiben. Das klang, als wäre das Leben eine Lasagne, die man jeden Tag wieder aufwärmt – und irgendwann gibt es eben nur noch einen Rest. Besser ihn aufessen, bevor er verschimmelt.
Jeden Tag ein Gedicht. Seit viertausendeinhundertzweiunddreißig Tagen. Er schrieb die Nummer links oben auf das Blatt. Meistens verbrauchte er mehr als ein Blatt und am Abend standen da fünf Zeilen oder zehn oder zwanzig. Für mehr war ein Tag zu kurz, es waren eben Ein-Tages-Gedichte. Er schrieb: Hört ihr die Limonen schrumpeln? Strich Limonen durch und schrieb darüber Zitronen. Strich die ersten zwei Worte durch und schrieb: Man hört hier – Man hört hier die Zitronen schrumpeln. Er lauschte in den Garten, auch wenn er keinen Zitronenbaum hatte, nur Oliven, und auch die hatte er noch nie gehört. Man hört hier die Zitronen schrumpeln / und wie die Nüsse sich in ihren Schalen drehen. Man hört den Kater durch die Wiese humpeln / und kann am Gartentor die Hornissen küssen sehen. Er strich zwei Worte aus dem letzten Vers: und kann am Gartentor Hornissen sehen.

Bild

TI RR I EP

Ti, ruft ein grauer Wurm mit faltigem Sandgesicht
Und eine kahle Drossel schnurrt, sobald ein Buchstabe erlischt

Die Stahlräder des einfahrenden Zuges rollen,
Obwohl der Straßenköter den dumpfen Ton verknurrt

Und hundert Mücken auf den Gleisen schmollen,
Als eine Taube leise Dep ins Blechhorn gurrt

Foto: Schriftzug TI RR I EP. Bei genauerem Hinsehen erkennt man die abgeblätterten Buchstaben und liest: Time, Arr, Dep.

Er wird kommen

Paul Klee hat übrigens immer wieder gedichtet. In seinen Tagebüchern notierte er Reime, die dann sozusagen ausgefüllt werden müssen.

„Gedichte epigrammatischer Natur mit den Reimen:

Gereimt / geleimt / große Pein / überflüssig zu sein.

Ich glaubte, es müßte mir wenigstens gelingen, mich selber lächerlich zu machen.

Weiter:

So ein leidend Haupt / gelber / glaubt / sich selber / tatbereit / Lächerlichkeit / erkoren / geboren / behaart / gepaart / betrogen / verlogen.“

Ob so ein gutes Gedicht gelingen kann, weiß ich nicht. Vielleicht schon; indem der Reim etwas vorgibt, ein Problem stellt, eine Art Dogma. Es handelte sich dann also um ein selbstauferlegtes Rätsel, das gelöst werden will. Trotzdem gefällt es mir besser, die Reime einfach schon als fertige unbewusste Kunst anzusehen, als Konzeptkunst. Die Anweisung zum Gedicht ist das Werk.

Yoko Ono - Gemälde für die Beerdingung

Klüger

Ruth Klüger hat ein Gedicht geschrieben, zu Jom Kippur. Es geht darin um den Tod ihres Bruders. Die letzte Strophe lautet: „Ich war doch vor Jahren dir Jahr um Jahr Schwester, / Der du dich abkehrst, starrsinnig erstarrt, / Wo dein Sterben dich einschließt wie Stacheldraht. / Sind wir Lebenden denn den Toten Gespenster?“

In weiter leben bemerkt sie dazu, die letzte Zeile sollte mühsam auszusprechen sein und unpoetisch klingen. Sie ist wirklich nicht poetisch und kaum über die Lippen zu bringen. Lebenden denn den. Wüsste ich nicht, dass es so sein soll, würde ich denken, die Worte seien ungeschickt gewählt. Diese Entscheidung für das Schiefe imponiert mir unbeschreiblich. Sie ist das Gegenteil von Angeberei: In Kauf nehmen, dumm dazustehen. Dazu gehört intellektuelle Sicherheit. Wieso ist das Einfachste das Schwerste?

Lesen

Würde ich heute ein Gedicht schreiben
und käme in Verlegenheit, es laut lesen zu müssen,
ich läse es ganz schlicht.

So schlicht, wie ich es schreiben würde,
ausdruckslos und ohne dichter Metaphorik,
ohne Pathos und Effekt.

Ich spräche langsam und deutlich
und betonte angemessen,
nicht überschwer, sondern durchwegs konventionell.

(Nur so könnte ich es lesen.)

Darüber Hinaus

Die enge Verbindung von Form und Inhalt tritt im Text am deutlichsten hervor. Der Inhalt stiftet überhaupt erst Form, die Stimmigkeit des Gebildes. Im Text wird der Begriff mimetisch, auch dort, wo die Wörter nicht ins Lautliche kippen. Die Konstellation der Inhalte stiftet den Sinn und so gelangt der Begriff über sich hinaus. Vielleicht vermag paradoxerweise überhaupt nur der Begriff über das Begriffliche hinaus. Nur durch ihn durch wird er aufgehoben.

Dagegen mündet der Vorbehalt am Begriff oft in Ausweichmanövern. Das Definitive des Begriffs wird vermieden und sein schlechter Ersatz vermag nicht einmal, was er noch vollbrächte, geschweige denn ein Mehr. Daher ist sogar Skepsis gegen sprachliche Spielereien, vielleicht auch bornierte, nicht ohne sachliche Grundlage. Das vage, lautmalerische, um der Poesie Willen Poetische schwächt das begriffliche Moment der Sprache ab, entschärft sie und gelangt so nicht in die Sphäre des Jenseits – entgegen der Intention, verbleibt sie derart gerade im dumpf Begrifflichen.

Proteus

Der Meeresgott Proteus gab dem von Ed Key und David Konega entwickelten Computerspiel seinen Namen. Und eben vom Meere aus betritt die Spielerin eine Insel aus bunten Farben und seltsam kitschigen Klängen. Die Musik passt sich der Umgebung an und die pixeligen Tiere, welche die Insel bewohnen, reagieren auf die Anwesenheit der Besucherin.

Anders als in dem in gewisser Weise ähnlichen Spiel Minecraft, wird sich aber nicht gleich mit bloßen Händen auf den nächsten Baum gestürzt, um eine Axt zu bauen. Wenn Minecraft die Urform der Naturbeherrschung virtuell verwirklicht – der Mensch, der sich die Natur gemäß seiner Bedürfnisse zurechtstutzt – betritt die Spielerin in Proteus das Bildnis einer versöhnten Natur. Diese Natur ist ihr nicht feindlich gesinnt, noch der in der Wirklichkeit verheerende Schneesturm kann deshalb als schönes von seltsamen Klängen umrauschtes Naturereignis erscheinen.

Auch lassen sich auf der Insel Spuren von Kultivierung entdecken: eine Hütte, einige Statuen oder ein Turm. Diese seltenen Gebäude können aber nicht betreten werden, sie erfüllen keine Funktion. Die Natur, vor der die Hütte Schutz bieten könnte, gibt es nicht. Sie sind ein Zeichen der Versöhnung und des Friedens. Ein kurzes Gedicht Brechts, das den Titel Der Rauch trägt, lautet: „Das kleine Haus unter den Bäumen am See. / Vom Dach steigt Rauch. / Fehlt er / Wie trostlos dann wären / Haus, Bäume und See.“ In Proteus ist noch etwas dieser Trostlosigkeit spürbar. Denn über dem Schornstein der Hütte auf der Insel fehlt der Rauch.

Cellar Door

Wer in der Schule lernt, das lyrische Ich wäre nicht mit der Autorin in eins zu setzen, ist erstaunt und dann stolz. Es liegt zunächst näher, sehr wohl genau davon auszugehen – besonders bei Gedichten oder bei biographisierender Prosa. Diese Vorstellung abzulegen, bedeutetet einen Abstraktionsschritt: stolz sind wir, weil wir uns freuen, dass wir zu ihm fähig sind. Aber irgendwie ist das Verhältnis von Autorin und lyrischem Ich – respektive auch von Erzählerin und Autorin – verwobener und seltsamer. Sie lassen sich im Grunde nicht so recht auseinander dröseln.

Vor allem gilt das, bei einem Roman, der in der Ich-Form erzählt wird. „Wie ich mir darüber klar wurde, war es schon zu spät. Ich hatte mich wohl zu sehr mit dem Gedanken angefreundet, mir keine Gedanken machen zu müssen.“ Wer sagt diese Sätze? War ich es und falls ja, wer ist ich? „Ich, Samuel Estragon, schreibe diesen Satz.“ Wer schreibt nun diesen Satz?

Eine Erzählfigur mag noch so durchdacht und glaubwürdig sein. Wenn der Hochstapler Krull uns seine Bekenntnisse vorlegt, ist es dann nicht doch ein Buch von Thomas Mann, dessen Name auch auf dem Titel prangt und ist dann nicht doch jedes Wort, das uns in der Sprache des Hochstapelnden aufgetischt wird, letztlich auch ein Wort von Thomas Mann? Es gibt eine Sphäre des Scheins, in der Krull diese Worte schreibt und eine vielleicht phantasielose, in der es immer die Worte Manns bleiben werden.

Ich vermute, dass wir als Kinder nicht Krull in Frage stellen, weil wir ihn nur als Thomas Mann gelten lassen wollen, sondern den Hochstapler für real nehmen. Wir zweifeln nicht am Schein, sondern halten das lyrische Ich für eine Person der wirklichen Welt. Eigentlich wird von uns verlangt, diese Sphären auseinanderzuhalten, die uns zunächst als eine erscheinen: Möglichkeit und Wirklichkeit.

Kippbilder

Es ist eine der bemerkenswertesten und charakteristischen Eigenschaften jeder Kunst, dass sie in einer bestimmten Ansicht ein seltsames Kippbild darstellt. Jedes einzelne Werk und jeder Werkkomplex ergeben für sich betrachtet einen Sinnzusammenhang, mag er geschlossen, brüchig oder durchlässig sein. Jedenfalls absorbiert er die Frage nach dem Sinn der Kunst in ihr Inneres. Sie kommt nicht auf, weil die Frage nach diesem inneren Sinn der Gebilde im Moment der konzentrierten Beschäftigung um soviel drängender erscheint.

Doch kaum tritt die denkende Betrachterin aus der Sphäre der Kunstwerke aus, blickt auf sie wirklich nur von außen, kippen die Stücke um. Sie verrätseln sich zu einer durchaus banalen und durchsichtigen Fassade, welche die Frage geradezu aufdrängt: Was soll der Scheiß eigentlich? Was vorher als subtiles Spiel der kleinsten Nuancen und Aspekte der Werke aufgefasst werden konnte, muss jetzt als Projektion und Wichtigtuerei erscheinen.

Diese Kippbildhaftigkeit der Kunst ist das stärkste Indiz dafür, dass künstlerische Werke wirklich eine eigene Welt bevölkern.