Der Graben I

Am Sonar war die Walherde deutlich zu erkennen. Julia drehte den Lautsprecher auf, der die Geräusche aus dem Wasser übertrug, und lauschte dem Gesang. Sie passierte die Stadt: Ein elektrisches Korallenriff, ein blinkender und blitzender Teppich am Meeresgrund. Noch vor zehn Jahren war sogar ein Tauchgang bis hierher eine Expedition, heute karrten sie die Touristen mit Linien-U-Booten hinunter und hinauf.
Der Graben war etwas anderes.
Das Flutlicht schien direkt nach unten, aber es war, als leuchtete man in zähen, schwarzen Nebel, der immer erst im letzten Augenblick den Weg freigab. Die Strömung rüttelte am Boot, und Julia hatte Schwierigkeiten, den Sicherheitsabstand zu den Klippen einzuhalten. Schwer zu glauben, dass hier unten noch Menschen lebten. Bisher gab es erst zwei Expeditionen in das Benthal des Grabens. Drei Häuser waren in der Literatur beschrieben, aber wer konnte wissen, wieviele es noch gab?
Ein Sog erfasste das U-Boot. Julia steuerte gegen und schaltete die Turbine auf die höchste Stufe. Trotzdem drückte es das Boot weiter Richtung Fels. Um den Aufprall abzufangen, stellte sie das Boot seitlich und stabilisierte mit dem Seitenantrieb. Ein Krach – und es steckte im Hang.
Wenigstens war der Reaktor nicht ausgefallen. Julia hatte noch Strom, aber der Motor stotterte unregelmäßig, und das Display zeigte an, dass die Hauptturbine Schaden genommen hatte. Wahrscheinlich hatte sie sich in den Stein gefressen und dabei ganz verbogen. Auch das Flutlicht hatte sich verhakt und starrte stur in die Tiefe.

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Simael der Wasserläufer

„Hier leben Wasserläufer.“ Die Mutter zeigte auf das Wasser. Auf der Oberfläche spiegelten sich das Geländer, die Laternen und die untergehende Sonne. Am Fuß der Laternen blühte Löwenzahn, der aus den Rissen im Asphalt wuchs.
„Wasserläufer?“, fragte ihre Tochter und sah fragend zuerst hinaus aufs Meer und dann in das Gesicht der Mutter.
„Wasserläufer sind winzige Wesen“, sagte die Mutter. „Sie sehen aus wie du und ich, aber sind zehntausendmal kleiner.“
Die Tochter öffnete ihre Handfläche, als säße darin eine junge Raupe. „So klein?“ Sie berührte die Stelle und zeichnete einen kleinen Kreis in ihre Hand.
„Viel kleiner. So klein wie wie der Mehlstaub in der Luft beim Kuchenbacken, den man nur an sonnigen Tagen sieht.“
Ein Geräusch des Staunens entfuhr dem Mund der Kleinen.
„Die Wasserläufer“, erzählte die Mutter weiter, „leben in den Spiegelungen auf dem Wasser. Die Laterne spiegelt das Licht der Sonne und zeichnet die Umrisse ins Meer. Und innerhalb der Linien tanzen die Wasserläufer. Ohne sie würden wir nur zarte, durchscheinende Striche sehen.“
„Wieviele Wasserläufer sind gerade da unten?“
„Unzählige“, sagte die Mutter. „Sie tollen herum und tanzen miteinander. Es ist ein wildes und ausgelassenes Fest. Deshalb verschwimmen die Umrisse der Spiegelungen auch so.“
Die Tochter zog an ihrem Ohrläppchen. Das machte sie immer, wenn sie nachdachte. „Gibt es Wasserläufer, die sich nicht an das halten, was die Sonne sagt?“
Die Mutter lächelte. „Seltsam, dass du das fragst.“
„Wieso seltsam?“
„Es gab wirklich einmal einen Wasserläufer, der träumte davon, aus dem Bild zu tanzen.“
„Wirklich?“ Das Mädchen hielt die Mutter am Pullover und hüpfte auf und ab. „Wie hat er geheißen?“
„So ähnlich wie du, Liebes: Simael.“
„Ich heiße nicht Simael.“
Die Mutter berührte die Tochter an der Nasenspitze.
„Und weiter?“, fragte die Tochter. „Hat er es geschafft?“
„Er hat es versucht. Zuerst tanzte er nur ein klein wenig von den anderen weg, zog weitere Kreise oder jagte die äußeren Grenzen der Spiegelbilder entlang. Aber immer, wenn er sich zu weit von der Linie der Sonne entfernte, riefen ihn die älteren Wasserläufer zurück. ‚Pass auf, Simael, du bist zu weit draußen. Was machst du wieder für Sachen? Du kennst die Gefahr.‘“
„Gefahr? Welche Gefahr?“
„Die Wasserläufer glauben, wer sich zu weit außerhalb der Linien aufhielte, würde sich selbst in Licht verwandeln und mit dem Sonnenuntergang verschwinden.“
„Ist Simael verschwunden?“
„Immer, wenn er die Rufe vernahm, kehrte Simael um und tanzte wieder mit seinen Freunden. Aber eines Abends – es war ungefähr so spät wie jetzt. Die Sonne stand tief und das Wasser lag ruhig da – tanzte Simael an der Spitze einer Laterne, am äußersten Rand der Spieglung, wo nur wenige Wasserläufer tanzten. Er war ganz in seine Drehungen und Sprünge vertieft. So vertieft, dass er die Warnungen der anderen nicht hörte und sich weiter und weiter entfernte. Die Linie hatte er längst passiert. Er fühlte sich frei und glücklich.“
Die Tochter klammerte sich an den Pullover der Mutter und die Mutter strich ihr über den Kopf.
„Simael bemerkte, dass er ganz allein war. Doch es fühlte sich schön an, tanzen zu können, woimmer er wollte. Simael drehte sich und hüpfte, mal dorthin und mal dahin. Da merkte er, wie etwas an ihm zog, wie ein Band, das an seinem Scheitel befestigt war.“ Die Mutter tippte mit dem Zeigefinger leicht an die Stelle auf dem Kopf der Tochter. „Hier. Und das unsichtbare Band zog Simael zurück hinter die Linie, dorthin wo er hingehörte.“
Die Tochter wischte die Hand der Mutter von ihrem Kopf wie einen Käfer. „Wieso darf er nicht alleine tanzen? Er will doch nur in Ruhe tanzen.“
„Es gibt eine Möglichkeit, Liebes, wie du ihm helfen kannst.“
„Wie, ich mache es?“ Die Tochter hüpfte wieder auf und ab und zupfte die Mutter am Pullover. „Was muss ich tun?“
Die Mutter pflückte den Stengel eines Löwenzahns, an dem ein großer, runder Windsamen hing. „Nimm. Aber sei vorsichtig.“ Sie drückte ihrer Tochter den Samen in die Hand. „Jetzt hältst du ihn hoch und bläst vorsichtig darauf.“
Die Tochter hielt den Stengel vor sich in die Luft und blies: Der Samen löste sich und der Wind trug ihn weit über das Meer.
„Mama, ich kann Simael sehen, da tanzt er! Siehst du?“ Ihr Finger folgte der Spiegelung des Samens auf dem Wasser.
„Ja, Liebes, ich sehe ihn“, sagte die Mutter und legte ihren Arm um die Tochter. „Wie er sich freut.“

Foto: Eine Promenade spiegelt sich auf ruhigem Meer.