Im Stall

stehen Kühe, Kühe und Ziegen und Hummeln. Alles ruht, steht da wie eingefroren. Es ist wohl die Wärme, die Wärme der Abendluft und der Geruch darin, die Akazien. Jedenfalls macht kein Tier einen Mucks. Die Hummel hockt der Ziege zwischen den Hörnchen und hält still. Einer Kuh fällt etwas hinten heraus. Die Flade drückt den Schweif hoch, von sich aus bewegt das Tier ihn nicht. Die Kühe stehen so, dass sie den Ziegen in die Augen sehen und die Hummeln sitzen so auf ihren Ziegenköpfen, dass sie den Kühen ihr Hinterteil präsentieren. Irgendwo liegt ein Hund. Muss ein Hund liegen, man riecht ihn, auch wenn man ihn nicht sieht. Wahrscheinlich steckt er im Heuhaufen, oder er ist die Leiter irgendwie hoch gekommen und versteckt sich unterm Dachgebälk. Ginge Wind, würde der Schuppen knarren. So ist es fast völlig still. Nur wenn man darüber nachdenkt, hört man die Zikaden, die man ansonsten ausblendet, und das Rauschen des Meeres.
Als hätte jemand einen Hebel umgelegt, kommt Leben in die Tiere. Die Hummeln erheben sich, brummen, landen auf den Köpfen der Kühe, präsentieren jetzt den Ziegen ihr Hinterteil. Die Kühe furzen, scheißen, manche werfen den Kopf zurück und muhen. Die Ziegen halten noch einigermaßen ruhig, aber man merkt, dass sich ihre Haltung verändert hat, dass sie nicht mehr erstarrt sind. Sie haben sich entspannt, der Kopf wiegt hin und her, hin und her. Der Heuhaufen raschelt und der Hund steckt seinen Kopf heraus. Im Maul hält er einen Quietschhahn. Er lässt ihn fallen und der Aufprall des Quietschhahns am Boden ergibt ein kurzes Röhren, ein abgebrochenes Röhren, von dem eine der Ziegen erschrickt und zu blöken beginnt. Die anderen Stimmen ein, die Hummeln erheben sich erneut, ganz so, als flögen sie nur, um zum Geblöke zu brummen. Auch die Zikaden, kann es sein?, haben in Lautstärke und Geschwindigkeit angezogen. Die Tierlaute ergeben ein Tosen, wie Geröll den Berg herunterkommt waschen die Tiergeräusche durch den Schuppen. Alle Kühe rufen jetzt, klagen, singen. Man hört sogar eine Katze schreien, sieht sie auch: die ist wirklich oben am Dachboden. Die Katze singt gewissermaßen die Oberstimme. Franziska beginnt mit den Armen zu wedeln; sie dirigiert die Tiere. Freilich hätten die auch ohne ihrem Gefuchtel gesungen, aber das Gefuchtel ist eben die Entsprechung zum Gejodel auf der Ebene der Bewegunng. Sie fuchtelt so lange, bis sie sicher ist, dass alles auf sie hört. Man muss eben nur lange genug mit den Tieren fuchteln, damit sich die Sache gewissermaßen umdreht, damit die Natur nach dem Gehampel der Menschen tanzt und nicht die Menschen nach dem Geschrei der Natur zappeln. Schließlich breitet sie die Arme aus und wirklich setzen sich die Hummeln zurück auf ihre Ursprungsziegen, die Ziegen und Kühe verkrampfen sich wieder zu Eisskulpturen, die Katze gibt Ruh und der Hund zieht den Kopf wieder unters Heu, raschelt nicht mehr. Nur eine einzige Hummel, die sich scheinbar vom Rausch hat irre machen lassen, surrt noch herum, surrt um Franziskas Kopf, um ihre ruhenden Arme und setzt sich irgendwann – wie lange hatte Franziska so gestanden? – auf ihren Handrücken. Sie ist so schwer, dass es Franziska den Arm an die Hüfte drückt und das ganze Spektakel wieder von vorne losgeht.

Robert

Eigentlich weiß ich ja kaum etwas von ihm. Von Robert. Er heißt ja nicht einmal so. Es wäre schon ein ungeheurer Zufall, wenn er so hieße. Alles, was ich über Robert weiß, ist hochgerechnet. Von seinem Bart habe ich auf seinen Namen geschlossen; von seiner Adidas-Jacke auf die Einrichtung seiner Wohnung; von seinem eigentümlichen Verhalten auf seinen Beruf.
Dies und das weiß ich aber schon. Hätte ich aufmerksamer beobachtet, mag sein, ich wüsste noch etwas mehr. Mich verbindet mit Robert die Starrheit des Tagesblaufs. Jeden Nachmittag setze ich mich in ein Café in einer Seitengasse der Mariahilferstraße, trinke eine Melange und blättere die Zeitungen durch. Zur selben Zeit, nämlich um Punkt drei Uhr, verlässt Robert das Haus. Womöglich habe ich es deshalb solange nicht bemerkt, weil ich zu dieser Zeit eben immer damit befasst bin, meine Garderobe abzulegen und mich einigermaßen auf meinem Stammplatz einzurichten, der, ohne dass ich es extra sagen müsste, für mich freigehalten wird. Einrichten heißt: die Zeitungen ausbreiten, das Plätzchen für den Kaffee vorbereiten, mir die Gesichter besehen, mit denen ich die Stunde verbringen werde. Das alles würde erklären, warum ich Robert so lange nicht bemerkte, obwohl ich ihn ja wenigstens beim Zurückkommen hätte sehen müssen, aber da muss es wiederum so gewesen sein, dass ich in meine Zeitungen vertieft dasaß, und nicht wahrnahm, was sich auf der Straße vorm Café abspielte. Zumal es ja für sich genommen nichts Außergeöhnliches war – nichts, das von sich aus irgendeine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hätte. Es war eben nur ein Bärtiger, der mit einem Eis ging. Vanille, das weiß ich jetzt. Aufsehenerregend macht den Vorgang einzig die Regelmäßigkeit. Seltsam, nicht?, wie Wiederholung etwas Belangloses zum Faszinosum befördert?
Eines Tages beugte sich meine Sitznachbarin zu mir herüber. Sonst wäre ich wohl noch heute ahnungslos, also in dem Sinne, dass ich von Robert, der dann auch keinen Namen hätte, nichts wüsste – nicht das Geringste. Jedenfalls sagte die Nachbarin, eine junge Studenin … Was sagte sie noch einmal?
„Sie sind immer da?“ Das hat sie zuerst gefragt, oder etwas dieser Art.
„Nur von drei bis vier“, antwortete ich.
„Sehen Sie diesen Mann?“ fragte sie.
Es ging mir ehrlich gestanden ein bisschen auf die Nerven, ihr Gefrage. Ich wollte ja nur meine Zeitung lesen, wusste nicht, was mir entging, wenn man das überhaupt so sagen kann. Nun ja. Ich sagte also:
„Den mit dem Bart?“
Und sie antwortete: „Der ist wie Sie.“
„Ich muss schon bitten“, sagte ich, und wenn ich mich recht erinnere, klopfte ich auf den Tisch. Nicht fest, aber doch mit genug Wucht, dass der Kaffee schepperte.
„Ich meine nur“, sagte die Nachbarin und schob das Tablett, das sich von meinem Klopfen verschoben hatte, zurück an seinen Platz. „Der macht auch jeden Tag dasselbe.“
Ich gestehe, dass ich jetzt schon neugierig geworden war. Natürlich war er nicht wie ich, das war ja ein junger Bursche, im Alter der Studentin. Vielleicht hatte sie ihn deshalb eher bemerkt als ich. Die beiden waren sich in vielem ähnlich. Das waren beide solche, die Hauben trugen, weil sie fanden, dass sie damit besser aussahen.
„Was macht er denn?“ fragte ich.
„Um drei verlässt er das Haus“, sagte sie. „Er geht auf die Mariahilferstraße und holt sich ein Vanilleeis. Ich glaube, es ist Vanille. Und dann geht er damit nach Hause. Immer wenn ich um die Zeit hier bin, sehe ich ihn. Auch wenn es schneit. Der macht das jeden Tag. Glauben Sie, er bringt es jemandem?“
Ich hätte ihr die Geschichte normalerweise gar nicht abgenommen, aber es war gerade Winter und wenn man darüber nachdachte, war es allein schon seltsam, überhaupt im Winter ein Eis zu holen. Die meisten Eissalons hatten im Winter nicht einmal offen. Und wer sich einmal eigenartig verhält … Trotzdem winkte ich ab, murmelte irgendetwas von meinen Zeitungen. Meine Nachbarin sah ein bisschen enttäuscht aus. Ich vermute, dass sie sich von mir Auskunft oder zumindest beobachterische Komplizenschaft erhofft hatte. Schließlich war ich, in ihren Worten, „wie er“.
Übrigens ist es sicher Vanille. Es hat nämlich nur ein Eissalon offen, und ich habe die Eissorten begutachtet und festgestellt, dass keine andere dieselbe Farbe wie Vanille hat. Eierlikör kommt nahe, ist aber von dunklen Schlieren durchzogen, die man zumindest an manchen Tagen hätte sehen müssen. Vanille also. Was sagt das über Robert aus? Es lässt auf eine gewisse Fantasielosigkeit schließen. Obwohl es sich womöglich nicht um die eigene Fantasielosigkeit handelt. Es ist nachvollziehbar, dass die Studentin vermutete, er bringe das Eis jemand anderem. Er schleckte ja nicht. Nie schleckte er. Warum nicht? Mehrere Gründe waren denkbar: Vielleicht gab es ein Ritual, ein Schleckritual, das er durchzuführen pflegte, eine Schleckmeditation. So etwas gibt es, ich habe es recherchiert. Oder er lässt es lieber ein wenig zerinnen, bevor er lutscht; so ein Eis ist doch recht kalt, besonders im Herbst oder Winter. Vielleicht isst er es gar nicht und es hat einen ganz anderen Zweck: Er wirft es in den Nachbarhof, er wirft es auf den Balkon unter sich. Davon glaube ich übrigens nichts. Ich denke es mir ganz anders.
Er lebt allein. Die Wohnung ist zu groß für ihn, vier Zimmer. Robert arbeitet zuhause, sein Schreibtisch ist aus Glas und hat metallene Beine, hohe metallene Beine. Robert sitzt nämlich nicht daran, sondern steht beim Arbeiten. Was genau er arbeitet, kann ich mir nicht vorstellen. Etwas Kreatives wohl, aber anwendungsorientiert – er schreibt: „Texter“ nennt man das heute, hat man mir gesagt. Das Eis isst er im Sitzen. Ohne Eis erlaubt er sich das Sitzen nicht. Das ist meine Theorie. Er setzt sich also an den Küchentisch. Das Radio läuft, aber er hört gar nicht hin, sondern schleckt nur sein Eis. Dabei streckt er die Zunge aus und dreht das Eis darüber. Zieht sie ein, streckt sie aus, dreht, zieht sie ein. Ich stelle mir vor, dass ihm die Vanille den Bart verschmiert, das Eis ist ja weich, ganz angeschmolzen. Es rinnt ihm auch über die Finger, über die Brust, aber das stört ihn nicht, er lässt es rinnen. Er genießt es sogar. Am Ende steckt er die Zunge in die Waffel und leckt sie aus, sodass sie aufweicht, aber nicht bricht. Dann wirft er sie ins Klo und geht duschen.
Es könnte ganz anders sein. Ich habe der Studentin am Nebentisch einmal meine Theorie erzählt – sie kommt gar nicht selten, nicht so oft wie ich, aber ganz und gar nicht selten. Sie sagt mir, dass sie sogar noch öfter kommt, aber eben nicht immer zwischen drei und vier. Das kann stimmen oder nicht. Jedenfalls lachte sie bei meiner Theorie, sagte, ich sei eben alt und versaut.
„Wie genau Sie sich das überlegt haben“, hat sie gesagt. „Geben Sie’s zu, ein bisschen gesabbert haben Sie schon, wie Sie sich das mit dem Waffelauslecken vorgestellt haben.“
Da habe ich wieder auf den Tisch geklopft – was hätte ich anderes tun sollen? – und dieses Mal ist der Kaffee davon auf den Boden gesprungen und alle im Café haben sich nach mir umgedreht.
Am nächsten Tag wäre ich fast nicht mehr gegangen, aus Scham, aber dann bin ich doch. Es waren andere Leute dort und der Vorfall vergessen. Übrigens habe ich jetzt manchmal das Gefühl, dass Robert mir beim Vorbeigehen zulächelt, nur am Rückweg, wenn er sein Eis hält. Ich frage mich, was er sich über mich denkt.

Wie das Wort Unten singen

Es käme mir ganz falsch vor, es tief zu singen; tief aus der Brust, von unten her. Wie in den selbstgemachten Musikvideos auf Youtube, erschiene mir das, wo beim Wort Ballon ein Heißluftballon gezeigt wird, im Adobe-Himmel, beim Wort Liebe ein Paar, das sich hinter den Ohren krault, und beim Wort Angst ein dunkler Raum, dessen Tür sich langsam schließt.
Also müsste ich es hoch singen, schrill wie ein Stahlbohrer: „Unten!“ – Kontrast, Gegensatz und so weiter. Aber das folgte demselben Prinzip. Nur zeigte das Musik-Video dann eben beim Wort Stein ein Stück Watte und beim Wort Hass zwei Murmeltiere, die ihre Schnauzen aneinander reiben, beim Wort Auto eine verschimmelte Tomate.
Man müsste das Wort Unten in der Melodie verstecken, sodass niemand auf die Idee käme, es gäbe einen Zusammenhang zwischen Musik und Text. Dann dächte man allerdings: Da versucht jemand, das Problem zu verdecken, löscht es feig aus: Da weiß jemand nicht, wie das Wort Unten singen.

Stadtspaziergang

Von weitem hielt ich es für eine verwundete Taube. Blut hatte das Gefieder verklebt und schwarz gefärbt; die Flügel waren unnatürlich gestellt, bildeten ein deformiertes Zelt, das Kopf, Glieder, Schwanz verbarg. Der Vogel, also was ich dafür nahm, schleppte sich über den Asphalt, zum Straßenrand. Beim Näherkommen war es nur ein Müllsack. Wind hatte ihn aufgebläht und zu einer Kugel geformt, wälzte ihn den Bordstein entlang. Trotzdem machte ich um das „Tier“ einen Bogen, als lauerte unter der Plastikhaut noch die sterbende Kreatur.

Die Zeichnerin

sperrte man in einen dunklen Raum. Das einzige Licht kam durch den Spalt unter der Tür. Bis auf ein Bett und ein Schreibpult mit Stuhl war das Zimmer leer.
Jeden Morgen, falls es ein Morgen war, ging das Licht im Spalt an, und jeden Abend, falls es ein Abend war, erlosch es. Mit dem Wasser, dass ihr durch eine Klappe geschoben wurde, gab man ihr Zeichenblätter und Bleistifte. An einigen Tagen erhielt sie auch Brot und Käse. Es gab Wochen, da aß sie täglich, in anderen gar nicht. Um sich zu beschäftigen, zeichnete sie. Unbeholfen, weil im Dunkeln die eigenen Linien verschwommen. Das Licht war so schwach, dass sie nie wusste, ob die Zeichnung gelungen war. Trotzdem schob sie die Bilder unter der Tür hinaus.
So ging es lange. Die Tage zählte sie nicht, falls es Tage waren.
Ihre Nägel rollten sich ein, sodass sie die Bleistifte zum Zeichnen zwischen die Knöchel der Finger klemmte, ihr Haar verfilzte und die Kopfhaut eiterte und brannte. Immer öfter zeichnete sie jetzt sich selbst. Aber je mehr der Blätter, die sie durch den Spalt schob, ihren krummen über dem Pult hängenden Körper zeigten, oder wie er zu einem Filzknäuel eingerollt auf dem Bett lag, desto weniger gab man ihr zu essen.
Aus Sehnsucht oder Berechnung, beide vermischten sich wie Honig und Schwarztee, zeichnete sie schöne Dinge: Eichen, Birken und Tannen, Karnickel und Spatzen, Ballettänzer, Kinder beim Seilspringen. Man gab ihr wieder öfters Brot, manchmal auch Käse und hier und da, vielleicht weil eine Zeichnung besonders gestrahlt hatte, frische Früchte, Weintrauben oder einen Pfirsich.
Kaum war sie zu Kräften gekommen, ließ man sie frei, falls es Freiheit war.

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Dämmerungsgesicht

Die Promenade erinnerte an das Frühstücksbuffet meines Hotels. Stellen zum Verweilen – ein Einstieg ins Meer, eine Bank, eine mit Moos bewachsene Mauer – wechselten sich mit Promenadenstücken ab, auf denen der Blick in die Ferne schweifen musste, um nicht zu verhungern: zum halbdunklen Himmel, zum Sichelmond über dem violetten Meer. Es roch nach Salz und eine Möwe kreischte so schrill, dass ich in ihr den Oberkellner zu erkennen meinte, wie er das Personal anwies, Schinken nachzulegen.
Ich war vielleicht zehn Minuten spaziert, da weitete sich der Weg und bildete ein Plätzchen. Auf der einen Seite führte eine Treppe mit gusseisernem Geländer ins Meer, auf der anderen war ein übermenschengroßes Gesicht in die Wand gehauen. Der Stein war vom kristallisierten Salz weiß und die Witterung hatte die Gesichtszüge angefressen. Die Nase war abgeschlagen, die Augenbrauen bröckelten, und statt Haar wuchsen Flechten und schwarzer Schimmel. Es mag einmal eine Fontäne gewesen sein, denn der Mund war spitz und etwas schimmerte darin. Auch die Pupillen waren runde Löcher, aber ohne Tiefe.
Eine Bank gab es nicht, also lehnte ich mich neben dem Gesicht an die Mauer und sah dorthin, wohin es vermutlich seit hundert Jahren blickte. Um diese Zeit war die Promenade belebt. Immer wieder gingen Badegäste an mir vorüber. Ein Pärchen in Abendgarderobe, Kinder, die Fangen spielten, ein Mann mit Pudel, eine Frau mit Schäferhund. Die meisten bemerkten mich gar nicht. Der Platz war beleuchtet, aber das Gesicht lag im Dunkel.
Bis eine Frau direkt auf das Gesicht zu ging und sich auf die freie Wandseite lehnte. Sie hatte dichtes Haar, das einmal schwarz gewesen sein musste und trug ein dunkelgrünes Sommerkleid. Das Kleid ging ihr bis über die Knie und flatterte im Wind.
Als eine Zeit lang niemand an uns vorbeiging sagte sie: „Das ist unser Engel der Geschichte.“ Sie sagte das auf deutsch, mit kroatischem Akzent, vielleicht sah man mir meine Herkunft an.
Weil ich nicht wusste, was sie damit meinte, sagte ich: „Sind Sie von hier?“ Mehr um zu zeigen, dass sie richtig geraten hatte.
„Trümmer sieht er keine“, sagte sie, „überhaupt sieht er nicht wie Sie oder ich.“ Sie sprach sorgfältig, in ernstem Ton und ohne mich anzusehen. Sah hinaus aufs Meer, den Blick immer etwas gesenkt, so wie das Gesicht, als stimme doch nicht ganz, was sie mir erzählte.
Sie sagte lange nichts und ich fragte: „Was sieht er?“
„Fünf Euro“, sagte die Frau.
Ich war nicht sicher, ob sie das Geld als Bezahlung haben wollte, oder meine Frage damit beantwortet war. Auch jetzt sah sie mich nicht an, sondern stierte die Blicklinie des Gesichts entlang. Die fünf Euro hätte ich ihr für die Antwort gegeben, aber ich wollte nicht riskieren, mich zu blamieren, falls ich die Antwort schon erhalten hatte. Also nickte ich – halb dankbar, halb abgeklärt – ließ noch einen Dackel passieren und einen Fischer, der einen Eimer Sardinen auf der Schulter balancierte. Eine sprang heraus und zappelte minutenlang auf dem Stein.
Am nächsten Tag spazierte ich zur gleichen Zeit die Promenade entlang, um zu sehen, ob die Frau auch diesen Abend da sein würde. Ich hatte einen Fünfer gefaltet und in meine Brusttasche gesteckt. Er schimmerte grünlich durch den weißen Stoff. Ich hoffte, die Frau würde den Schein bemerken und ihr Angebot, falls es eines war, daraufhin wiederholen. Aber als ich an die Stelle kam, wo ich neben dem Gesicht gestanden hatte, fand ich nicht die Frau und nicht einmal das Gesicht – nur eine Bank und eine Büste von Kaiser Franz Josef.

Foto: Verwittertes Gesicht aus Stein.

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Haus–Eingang

„Schau.“
Olga zeigte auf das Metallgitter, das die Tür des Gebäudes vor Einbrüchen schützte. An einer Stelle waren Platten in die Zwischenräume geschraubt, darauf stand: „Haus-Eingang“.
„Ja“, sagte Li, „damit man weiß, was das ist.“
Sie griff in das Gitter und rüttelte daran. Erst leicht, als wollte sie testen, ob es sich öffnen ließe, dann fester, übertrieben dramatisch, als wäre das Hauseingangsgitter das Gitter einer Gefängniszelle.
Olga sagte: „Komm“, ging ein paar Schritte zur Seite und setzte sich auf den Gehsteig.
Die Straße war menschenleer. Die ganze Gegend verlassen.
Li setzte sich zu Olga, fragte: „Und jetzt?“
„Jetzt warten wir“, sagte Olga.
Li lachte.
„Was?“ fragte Olga.
„Du wolltest dir doch“, sagte Li, „ein Tattoo machen.“
Olga zog ihr T-Shirt herunter und zeigte sich auf die Schulter. „Hier.“ Dann fuhr sie sich die Außenseite des Unterschenkels entlang, vom Knöchel bis zum Saum ihres Rocks. „Und hier.“ Sie lehnte sich zurück. „Vielleicht noch am Rücken.“
„Schulterblatt“, fragte Li, „oder überm Arsch so?“
„Weiß nicht“, sagte Olga und dann nach einer Weile: „Schulterblatt.“
„Geil wäre“, sagte Li und blies Luft aus der Nase. „Machs so wie beim Gitter. Auf die Schulter ‚Schulter‘, auf den Unterschenkel ‚Unterschenkel‘, aber so mit Bindestrich: ‚Unter … Schenkel‘ und am Arsch –“
Sie drückte sich die Hand auf den Mund und legte den Kopf in den Nacken. Über ihnen hatte jemand an die Wand geschrieben: „What are you, what are you waiting for?“
„Schulter … Blatt“, sagte Olga. „Schulter … Bindestrich … Blatt.“
Li zeigte hinter sich an die Wand, auf den Schriftzug.
„Schau.“

Foto: Metallgitter mit der Aufschrift: „Haus-Eingang“

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Ich kreuzte die Beinchen vorm Bauch

Es war ein offener Bau, überdacht, aber ohne Seitenwände. Die Menschen hatten ihn wohl hier gebaut, um das Meer zu beobachten. Dabei tranken sie braunen Sud, der bitter duftete und sicher auch bitter schmeckte, denn sie tranken ihn gezuckert und aßen dazu süßen Teig, der in allen Farben leuchtete. Der Zucker war es auch, der mich immer wieder angelockt hatte.
Die Menschen duldeten mich. Es kam vor, dass einer mit dem Handrücken nach mir schlug, andere lehnten sich zurück und erlaubten mir, von ihrem Zucker zu naschen. So zog ich von buntem Zucker, zu buntem Zucker wie über eine satte Blumenwiese. Bald flog ich täglich hierher. Hätte ich wissen sollen, dass ich mich an eine Falle gewöhnte, die eines Tages zuschnappen würde?
Wobei: Ich deute es so, doch bin ich selbst jetzt, da mir die Vergangenheit klar erscheinen sollte, nicht sicher, ob es sich wirklich um eine Falle handelt. Über die Bauten der Menschen kursieren wilde Gerüchte. Die Mehrheit davon ist Aberglauben. Aber zuweilen ereignet sich Merkwürdiges dort, wo die Menschen die Natur in ihrem Sinne umgestaltet haben: Die Fallen etwa gibt es, ich habe sie selbst gesehen. Mit Sirup gefüllte Gefäße. Man sieht ihnen die Enge nicht an, klettert hinein und stürzt in den klebrigen Saft; oder die einzige Öffnung ist so geformt, dass die Beine keinen Halt finden und man abrutscht. Man schlägt mit den Flügeln, aber sie klatschen gegen die grüne oder braune Schale. Die Luft in der Falle ist von der Sonne heiß, die Kräfte versagen schließlich und man ergibt sich. Das Ende kommt als Erleichterung, ein Tod im Zucker. Ironisch, wenn man daran denkt, wie unsere Legenden das Paradies ausmalen.
Solche Fallen habe ich zu vermeiden gelernt. Sie raffen nur die Jungen dahin, die ihre Triebe nicht zu beherrschen vermögen, die glauben, die Warnungen der Alten von den Flügeln putzen zu können. Sie denken – und ganz unrecht haben sie damit nicht – warum nicht vom Köder naschen und der Falle entrinnen? Schließlich schaffen es manche.

Zuerst hielt ich es für einen starken Wind. Ich flog und prallte von der Luft ab, als hätte ich einen Baum oder eine Felswand getroffen. Vom Aufprall benommen setzte ich mich, ging auf und ab, schüttelte die Flügel aus. Ich flog wieder an und prallte wieder ab. Vor mir lag die Freiheit, aber eine unsichtbare Kraft hielt mich davon ab, dorthin zu gelangen.
Mit Anlauf flog ich erneut gegen die unsichtbare Mauer, erneut schlug ich mir den Kopf, trudelte zu Boden und drehte mich nur mit Mühe auf die Beine. Ich setzte mich und rieb mir mit den Vorderbeinchen den Kopf. Manchmal vergingen Probleme von selbst. Vielleicht war es wirklich ein Wind und ich musste nur warten und seine Kraft ließe nach. Vielleicht würde mir, wenn ich nur Ruhe bewahrte und nachdachte, die Lösung zufliegen, so wie ein Stück Fleisch einem zuweilen einfach vor die Füße fällt.
Doch die Sonne versengte mir den Hinterkopf und die Oberseite des Giftbeutels. Ich drehte mich, um die Hitze besser zu verteilen, auf den Rücken. Die Flügel streckte ich zur Seite und die Beinchen kreuzte ich vor dem Bauch, als legte ich mich zum Sterben.

Foto: Totes Insekt auf Fensterbank

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Der Unterirdische Fluss

Vorne schlug Wasser gegen Stein. Arseni lenkte das Kanu auf das Plätschern zu, indem er das Ruder näher an sich heranzog. Noch war nichts von der Ausbuchtung zu sehen – nur die Wellen verrieten sie. Die Strömung floss hier langsam und Arseni hatte aufgehört, mit dem Ruder nachhelfen zu wollen. Zu dem Plätschern kam jetzt ein mattes Glühen, wie das Licht einer Stadt, die der Horizont verdeckt. Arseni trieb um eine Biegung und steckte die Hand ins Wasser. Es war kalt und kribbelte auf der Haut.
Das Boot näherte sich dem Ufer und Arseni stand auf, fing den Aufprall ab. Er hielt sich am Stein fest und zog die Seite des Bootes an die Uferwand. Er war in einer Aushöhlung, einer Höhle in der Höhle. Die Wände und der Boden waren von Flechten bedeckt: Sie schimmerten grünlich und rötlich und gelblich und weißlich und bräunlich. Arseni kletterte aus dem Kanu und zog es an Land. Er hielt seine Handfläche ans Licht: Es war so schwach, dass seine Haut grau aussah und die Falten darauf scharfe Linien zogen.
Das Wasser des Flusses war nicht giftig, aber auch kein Trinkwasser. Arseni hatte es einmal gekostet. Es stach in Hals und Magen und löschte den Durst nicht. Vielleicht wuchs deshalb nichts, im unterirdischen Fluss, und lebte nichts darin. Aber hier gab es Pflanzen. Woher nahmen sie ihre Kraft?
Es musste eine Quelle geben. Arseni ging die Seitenwände ab. Die Ausbuchtung maß keine zwanzig Schritt. Jedes Mal, wenn er eine Flechte berührte, zuckte sie und leuchtete auf, sodass das Licht in den Augen schmerzte und Arseni warten musste, bis er sich wieder an die Dunkelheit gewohnt hatte. An einer Stelle war die Wand feucht. Die Flechten standen hier dichter und blitzten schärfer. Aus einem Riss im Fels sickerte Wasser. Arseni drückte die hohle Hand gegen den Stein und sie füllte sich mit lauwarmer Flüssigkeit. Das Wasser musste von oben kommen, wo die Sonne den Stein wärmte. Er trank. Füllte die Hand und trank, füllte die Hand – trank – füllte noch einmal die Hand. Holte Luft und trank. Setzte sich, vom gelöschten Durst müde, und schlief ein.
Die Pflanzen legten sich ihm über den Leib. Wuchsen in Augen und Nase, in die Poren der Haut, in die Wurzeln des Haars; sie hoben und senkten sich im Takt Arsenis Atems, der schließlich erlosch.

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[Titel: Scharf, Schädlich]

[Prosa: Allegorie: Kräuter im Drink]
[Beat, Nina] „Das ist doch keine Minze.“ [Beat, Setting: Bar, Bossa Nova]
„Sieht aus wie Unkraut“, sagte Petra und [Beat]
[Beat: Nina entfernt Kraut aus Mojito]
[Beat: Petra nimmt das Kraut, Beschreibung: Erinnert an Löwenzahn, Salat] „Das würde ich nicht bezahlen.“
Nina sagte, dass es ihr egal sei und der Drink ihr ohne Minze eigentlich sowieso besser schmecke. Sie nahm Petra das Grün aus der Hand und steckte es sich in den Mund. „Ruccola.“
„Bestell Olivenöl dazu“, sagte Petra und [Beat: Lachen: Klang: Hämisch, Beat: Salzt und pfeffert Bloody Mary]
[Beat, Nina: Geste]
[Prosa: Bedeutung: Der Unterton und das Unkraut]

Foto: Bunte Glasflaschen: Grün, Weiß, Rot