Der Graben II

Es pumperte. Julia sprang auf, stürzte an die Schleuse. Es war unwahrscheinlich, dass ihre Crew sie so schnell gefunden hatte. Außerdem hätte das Suchteam sie angefunkt, sobald es nah genug gewesen wäre, um ihr Signal zu empfangen.
Julia atmete durch und setzte sich wieder an den Tisch, auf dem sie ihre Berechnungen ausgebreitet hatte. Sie schob sie zu einem Stapel zusammen und legte die Karte des Grabens oben auf. Dann ging sie wieder zur Schleuse und sah durch die Luke. Auf der anderen Seite war ein Männergesicht mit Augen, die beim Anblick Julias aufleuchteten.
Sobald sie die Türe ein Stück geöffnet hatte, drängte sich ein eigentümliches Tier durch den Spalt. Es war robbengroß, hatte eine Hundeschnauze und Flossen an den Seiten. Das Tier stemmte sich an Julia hoch und rieb die Ohren an ihrem Bauch.
„Das ist Nelly“, sagte der Mann.
„Und Sie sind?“ fragte Julia.
„Hugo.“
„Julia“, sagte Julia und streckte ihm die Hand entgegen. „Wollen Sie etwas trinken. Ich war gerade im Begriff, einen Tee zu kochen.“
„Wenn Sie auch ein Wasser?“ sagte er. „Für Nelly, meine ich, in einer Schüssel.“
Julia stellte Teewasser auf und füllte eine Schüssel für das Tier. Sie legte ein Sieb in die Teekanne und löffelte Schwarztee hinein.
„Da haben Sie sich ziemlich festgesetzt“, sagte Hugo.
„Na ja“, sagte Julia. „Es ist eigentlich ein recht angenehmens Fleckchen hier. Ich habe mich gerade eingewöhnt.“
„Sie brauchen also keine Hilfe?“
„Milch, Zucker?“ fragte Julia beim Aufgießen.
Nelly schlabberte vergnügt ihr Wasser, verschüttete die Hälfte.
„Weder noch“, sagte Hugo.
„Habe ich sie mit meinem Licht gestört?“ fragte Julia.
„Das kann man wohl sagen.“ Hugo spielte mit seiner Tasse, blickte hinein als gäbe es darin schon einen Satz zu lesen. „Ich habe an meinem Verstand gezweifelt, um ehrlich zu sein. Habe gedacht, ich bilde mir das Licht nur ein. Es bleibt hier ja selten ein Boot hängen.“
„Das tut mir leid“, sagte Julia und schenkte den Tee ein.
„Na ja.“ Hugo sog Dampf in die Nase. „Es ist also alles in Ordnung bei Ihnen. Dann gehe ich wieder.“
„Ich dachte, Sie trinken mit mir Tee.“
„Ich will mich nicht aufdrängen.“ Hugo nahm einen Schluck. „Wenn Sie wieder ihre Ruhe wollen, verstehe ich das. Ich bin selbst genauso. Nichts hasse ich so, wie unangekündigten Besuch.“

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Ich kreuzte die Beinchen vorm Bauch

Es war ein offener Bau, überdacht, aber ohne Seitenwände. Die Menschen hatten ihn wohl hier gebaut, um das Meer zu beobachten. Dabei tranken sie braunen Sud, der bitter duftete und sicher auch bitter schmeckte, denn sie tranken ihn gezuckert und aßen dazu süßen Teig, der in allen Farben leuchtete. Der Zucker war es auch, der mich immer wieder angelockt hatte.
Die Menschen duldeten mich. Es kam vor, dass einer mit dem Handrücken nach mir schlug, andere lehnten sich zurück und erlaubten mir, von ihrem Zucker zu naschen. So zog ich von buntem Zucker, zu buntem Zucker wie über eine satte Blumenwiese. Bald flog ich täglich hierher. Hätte ich wissen sollen, dass ich mich an eine Falle gewöhnte, die eines Tages zuschnappen würde?
Wobei: Ich deute es so, doch bin ich selbst jetzt, da mir die Vergangenheit klar erscheinen sollte, nicht sicher, ob es sich wirklich um eine Falle handelt. Über die Bauten der Menschen kursieren wilde Gerüchte. Die Mehrheit davon ist Aberglauben. Aber zuweilen ereignet sich Merkwürdiges dort, wo die Menschen die Natur in ihrem Sinne umgestaltet haben: Die Fallen etwa gibt es, ich habe sie selbst gesehen. Mit Sirup gefüllte Gefäße. Man sieht ihnen die Enge nicht an, klettert hinein und stürzt in den klebrigen Saft; oder die einzige Öffnung ist so geformt, dass die Beine keinen Halt finden und man abrutscht. Man schlägt mit den Flügeln, aber sie klatschen gegen die grüne oder braune Schale. Die Luft in der Falle ist von der Sonne heiß, die Kräfte versagen schließlich und man ergibt sich. Das Ende kommt als Erleichterung, ein Tod im Zucker. Ironisch, wenn man daran denkt, wie unsere Legenden das Paradies ausmalen.
Solche Fallen habe ich zu vermeiden gelernt. Sie raffen nur die Jungen dahin, die ihre Triebe nicht zu beherrschen vermögen, die glauben, die Warnungen der Alten von den Flügeln putzen zu können. Sie denken – und ganz unrecht haben sie damit nicht – warum nicht vom Köder naschen und der Falle entrinnen? Schließlich schaffen es manche.

Zuerst hielt ich es für einen starken Wind. Ich flog und prallte von der Luft ab, als hätte ich einen Baum oder eine Felswand getroffen. Vom Aufprall benommen setzte ich mich, ging auf und ab, schüttelte die Flügel aus. Ich flog wieder an und prallte wieder ab. Vor mir lag die Freiheit, aber eine unsichtbare Kraft hielt mich davon ab, dorthin zu gelangen.
Mit Anlauf flog ich erneut gegen die unsichtbare Mauer, erneut schlug ich mir den Kopf, trudelte zu Boden und drehte mich nur mit Mühe auf die Beine. Ich setzte mich und rieb mir mit den Vorderbeinchen den Kopf. Manchmal vergingen Probleme von selbst. Vielleicht war es wirklich ein Wind und ich musste nur warten und seine Kraft ließe nach. Vielleicht würde mir, wenn ich nur Ruhe bewahrte und nachdachte, die Lösung zufliegen, so wie ein Stück Fleisch einem zuweilen einfach vor die Füße fällt.
Doch die Sonne versengte mir den Hinterkopf und die Oberseite des Giftbeutels. Ich drehte mich, um die Hitze besser zu verteilen, auf den Rücken. Die Flügel streckte ich zur Seite und die Beinchen kreuzte ich vor dem Bauch, als legte ich mich zum Sterben.

Foto: Totes Insekt auf Fensterbank

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Die Grube

Noch zwei Wochen bis zum Kampf. Möglich waren fünfzehn Meter am Tag. Sechzig hatte Jonathan schon. Bei zweihundertsechzig Metern Grubenumfang würde er also am Tag des Kampfes fertig. Vorausgesetzt er schaffte jeden Tag die fünfzehn Meter; unwahrscheinlich, weil manchmal die Bretter ausgingen, oder weil es derart goss – wie vor drei Tagen – dass er nur am Bauch liegend arbeiten könnte. Dann schaffte er keine fünf Meter. Also vierzehn Tage unter idealen Bedienungen und trotzdem würde es knapp. Das war‘s dann wohl. Er sah nach oben. Der Himmel war ein blauer Kreis, von dem aus eine punktgroße weiße Sonne in die Grube brannte. Ob ihn jemand vermissen würde? Er konnte sich nicht einmal in den Schatten an der Grubenseite drücken. Wegen der Stacheln: Die Oberin liebte Stacheln. Der ganze Kampf war primitiv. Man sollte statt zusätzliche Galerien zu bauen, die Grube mit Wasser fluten. Ein gewaltiges Wasserloch, das wäre eine Attraktion.
Zugegeben, die Leute kamen zu den Kämpfen und johlten und tobten so ausgelassen, dass die Hälfte des Publikums dabei in die Grube stürzte und draufging. Aber das taten sie, weil die Oberin es so wollte und wegen des Suds. Jonathan rührte das Zeug nicht an – das heißt nicht mehr. Der Sud machte einen verrückt. Ein Krug reichte und man fühlte sich wie eine wilde Sau, der man mit einem Speer oder einer Machete die Flanke geöffnet hatte. Aber man fühlte sich gut dabei, der Sud löschte die Distanz aus. Man fühlte sich nicht nur wie eine Sau, man war eine, man tobte und der Sud brannte im Magen, ätzte die Kehle hinauf und durch die Adern in den Kopf bis gegen die Schädeldecke. Und in Arme und Beine, in die Spitzen der Finger und unter das Nagelbett. Nach ein paar Krug Sud denkst du nicht mehr, du bist einfach da, aber nicht ruhig, sondern getrieben und rastlos.
Am nächsten Tag sind die Menschen übrigens nicht beschämt oder erleichtert, wieder bei Sinnen zu sein. Sie wollen nur wieder in diesen Zustand zurück, in die Raserei. Frag beim Kampf irgendwen im Publikum – nein, das geht nicht, frag besser vor dem Kampf – wie sie sterben wollen. Jeder wird dir sagen: „In der Raserei, im Sud will ich verrecken wie ein Viech, im vollen Sud, so dick im Sud, dass ich nicht mehr weiß, wer ich einmal war.“
Im Sud sterben, das ist es. Du fürchtest den Tod nicht mehr, du stürzt dich ihm entgegen und lieferst dich ihm lachend aus. Deshalb lasse ich die Finger vom Sud und deshalb kommen die Leute zur Grube, weil sie wissen, dass eine gute Chance besteht, draufzugehen. Sie wollen eigentlich dortbleiben. Bringen nichts mit: Den Sud bekommen sie dort, Sud gibt es immer genug und sonst brauchen sie nichts.
Es gibt einen – ich kenne ihn gut – der steht vor jedem Kampf an der Grubenschlucht, wo alle durchkommen, die zum Kampf wollen. Und er versucht die Vorbeiströmenden davon zu überzeugen, den Sud nicht zu trinken, nicht zum Kampf zu gehen. Die Oberin lässt ihn reden, sie weiß, dass er nichts ausrichten kann. Sie weiß, dass er ihr letztlich sogar hilft. Dieser Prediger – eigentlich ist er ein alter Dockerarbeiter, so wie ich, aber alle nennen ihn nur den Prediger – redet auf die Leute ein. Sagt ihnnen, der Kampf wäre ihr Untergang, der Sud würde ihnen das Menschsein rauben. Aber sie lachen ihm ins Gesicht. Das wollen sie nämlich gerade, man sieht es ihnen an. Aber warum lachen sie? Sie lachen ihn nicht aus, sie lachen, weil sie glauben, dass er sie verhöhnt. Ich weiß, dass es nicht so ist, dass er sie retten will, dass er glaubt, sie retten zu können, vor dem Sud, vor dem tierischen Dasein. Er glaubt, es gäbe schon Menschen. Zumindest hat er das geglaubt.
Jonathan wischte sich über die Stirn. In vierzehn Tagen war es nicht zu schaffen. Das heißt: diesmal würde er nicht predigen. Schön, wenn zumindest jemand sein Fehlen bemerkte und sagte: „Wo ist denn eigentlich der Prediger heute? Eigentlich schade, dass er aufgegeben hat.“

Foto: Ein Arbeiter legt einen Steg über einen Abgrund.