Der Graben II

Es pumperte. Julia sprang auf, stürzte an die Schleuse. Es war unwahrscheinlich, dass ihre Crew sie so schnell gefunden hatte. Außerdem hätte das Suchteam sie angefunkt, sobald es nah genug gewesen wäre, um ihr Signal zu empfangen.
Julia atmete durch und setzte sich wieder an den Tisch, auf dem sie ihre Berechnungen ausgebreitet hatte. Sie schob sie zu einem Stapel zusammen und legte die Karte des Grabens oben auf. Dann ging sie wieder zur Schleuse und sah durch die Luke. Auf der anderen Seite war ein Männergesicht mit Augen, die beim Anblick Julias aufleuchteten.
Sobald sie die Türe ein Stück geöffnet hatte, drängte sich ein eigentümliches Tier durch den Spalt. Es war robbengroß, hatte eine Hundeschnauze und Flossen an den Seiten. Das Tier stemmte sich an Julia hoch und rieb die Ohren an ihrem Bauch.
„Das ist Nelly“, sagte der Mann.
„Und Sie sind?“ fragte Julia.
„Hugo.“
„Julia“, sagte Julia und streckte ihm die Hand entgegen. „Wollen Sie etwas trinken. Ich war gerade im Begriff, einen Tee zu kochen.“
„Wenn Sie auch ein Wasser?“ sagte er. „Für Nelly, meine ich, in einer Schüssel.“
Julia stellte Teewasser auf und füllte eine Schüssel für das Tier. Sie legte ein Sieb in die Teekanne und löffelte Schwarztee hinein.
„Da haben Sie sich ziemlich festgesetzt“, sagte Hugo.
„Na ja“, sagte Julia. „Es ist eigentlich ein recht angenehmens Fleckchen hier. Ich habe mich gerade eingewöhnt.“
„Sie brauchen also keine Hilfe?“
„Milch, Zucker?“ fragte Julia beim Aufgießen.
Nelly schlabberte vergnügt ihr Wasser, verschüttete die Hälfte.
„Weder noch“, sagte Hugo.
„Habe ich sie mit meinem Licht gestört?“ fragte Julia.
„Das kann man wohl sagen.“ Hugo spielte mit seiner Tasse, blickte hinein als gäbe es darin schon einen Satz zu lesen. „Ich habe an meinem Verstand gezweifelt, um ehrlich zu sein. Habe gedacht, ich bilde mir das Licht nur ein. Es bleibt hier ja selten ein Boot hängen.“
„Das tut mir leid“, sagte Julia und schenkte den Tee ein.
„Na ja.“ Hugo sog Dampf in die Nase. „Es ist also alles in Ordnung bei Ihnen. Dann gehe ich wieder.“
„Ich dachte, Sie trinken mit mir Tee.“
„Ich will mich nicht aufdrängen.“ Hugo nahm einen Schluck. „Wenn Sie wieder ihre Ruhe wollen, verstehe ich das. Ich bin selbst genauso. Nichts hasse ich so, wie unangekündigten Besuch.“

Stadtspaziergang

Von weitem hielt ich es für eine verwundete Taube. Blut hatte das Gefieder verklebt und schwarz gefärbt; die Flügel waren unnatürlich gestellt, bildeten ein deformiertes Zelt, das Kopf, Glieder, Schwanz verbarg. Der Vogel, also was ich dafür nahm, schleppte sich über den Asphalt, zum Straßenrand. Beim Näherkommen war es nur ein Müllsack. Wind hatte ihn aufgebläht und zu einer Kugel geformt, wälzte ihn den Bordstein entlang. Trotzdem machte ich um das „Tier“ einen Bogen, als lauerte unter der Plastikhaut noch die sterbende Kreatur.

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Zeichen und Mahl

Ihr war als zitterte das Reh, das sie beschlich. Aber falls das Jungtier zitterte, dann nicht wegen ihr, denn der Wind blies ihr ins Gesicht und sie rührte sich nicht. Der Himmel war von einem tiefen Blau, wie es die Alten nicht mischen konnten, die sich an die Farben der Erden und Pflanzen hielten: Distelrot, Glutrot, Eisenocker, Nussbraun, Bastgelb, Ginstergelb. Für das Nachtblau dieses Morgenhimmels fehlte ihnen das Pigment.
Sie legte den Pfeil auf den Bogen und atmete ruhig. Das Reh hob den Kopf und sah sie aus schwarzen Augen an. In einer geschmeidigen Bewegung spannte sie das biegsame Birkenholz und schickte den Pfeil auf den Weg. Er passierte Farne, Sträucher, Brombeerranken – ein Zitronenfalter wich ihm aus – und fraß sich durch das Fell, durch die Haut, durch das Fleisch ins Herz.
Das Reh stand einen Moment so da, den Pfeil in der Flanke, ein hellroter Punkt darunter und brach zusammen. Sie kam näher, beugte sich über das Tier und zog den Pfeil aus dem leblosen Leib. Der Zitronenfalter setzte sich in das schwarze Auge und seine Beine versanken im feuchten Glaskörper. Bissen sich fest wie Widerhaken im Fleisch eines Fisches.
Sie schnitt dem Reh die Kehle auf und sein warmes Blut mischte sich mit der Erde zu dunklem Kastanienbraun. Der Falter steckte immer noch in der starren Pupille. Sie vertrieb ihn nicht, sondern ließ ihn stecken. Ihr gefiel, wie er seine Beinchen in das Auge grub und die Flügel wetzte. Der Körper des Rehs war zu schwer, um ihn alleine zu tragen, also kehrte sie ins Dorf zurück.
Im Dorf berichtete sie den Anderen, wo sie das Tier erlegt hatte. Dann holte sie aus ihrer Hütte Erdpigmente, Mischschalen und eine Fackel. Sie entzündete die Fackel und stieg zur Höhle hinauf, in der die erlegten Tiere sich an den Wänden tummelten. Ihre flachen Leiber zuckten im Feuerschein. Zwischen zwei Gämsen fände das Reh Platz. Sie mischte die salzigen Erden mit ihrem Speichel, malte mit dem Zeigefinger die kohlernen Umrisse des Tiers an die Wand und färbte den Körper gelb. Gerne hätte sie die schwarzen Augen gemalt und den Zitronenfalter, aber ihre Finger waren zu dick. Sie lachte. Ihr Reh sah aus wie eine hornlose Gazelle.

Foto: Blau und rot bemalter Schiffsrumpf mit Rostflecken.

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Fasern

Der dunkle Fleck allein zeugte nicht vom Ursprung der Scherbe, die sich in den grauen Teppichboden geschoben hatte und die Fasern zerriss: eine tiefe, stechend nach Whiskey miefende Wunde. Der junge Dackel winselte, obwohl sie ihm Schlaftabletten gegeben hatte. Schon beim Anblick des Küchenmessers heulte er wie ein zur Schlachtung bestimmtes Ferkel. Sie fummelte zitternd eine Schachtel aus der Lade, drückte drei Pillen aus der Verpackung. Das Plastik knisterte unter dem Druck der verkrampften Finger. Eine feuchte Ratte ritzte sich an der Scherbe die Haut auf, ließ sich von der Verletzung nicht beirren und hielt stur auf den Speck in der Falle zu. Die dunkle Lacke am Boden dampfte um den drohenden Splitter, sickerte wie saure Milch in die klaffende Spalte. Das Surren der Fliege erstarb, weil sich das Insekt in einem Spinnennetz verhedderte. Die Verfangene strampelte noch. Der Dackel winselte leiser. Sie legte ihn auf den Tisch, wo er die Beinchen streckte und ruhig vor sich hin röchelte. Die Ratte erreichte den Speck. Sie schnüffelte an dem spitzen Metall der Falle, das darauf wartete, schlagartig seine Spannung zu lösen. Der Hund rührte sich kaum mehr, eine haarige Knackwurst. Sie setzte die Spitze des Messers an seinen Bauch. Die Fliege erhöhte ihre Anstrengungen, als die Spinne sich näherte, aber je mehr sie sich wehrte, desto gründlicher verstrickte sie sich in den feinen Fäden des bleiernen Netzes. Die Scherbe bohrte sich tief in ihre Fußsohle, der dunkle Fleck verdunkelte sich und der Schnitt füllte sich mit Saft. Die Ratte zog an dem Speck, aber er löste sich nicht aus seinem rostigen Gestell. Sie legte das Messer neben den Hund und hob den Fuß, in dem das Whiskeyglasstück brannte. Die Scherbe hatte den Teppichboden beim Rausziehen aufgerissen und einen dunklen Riss mit ausgefransten Konturen hinterlassen, aus dem helle Dämmmasse quoll. Die Fliege strampelte noch einmal, ein Schrei unter Wasser, und ergab sich der winzigen schwarzen Spinne, die sie Schicht um Schicht einsponn. Sie humpelte zum Verbandskasten und riss sich die blutige Scherbe aus dem Fleisch. Der Dackel schlief und schnarchte friedlich auf dem Schreibtisch, als fehlte und drohte ihm nichts. Der Verband färbte sich rot. Sie griff erneut nach dem Küchenmesser und schlitzte den dabei zum Leben erwachenden Hund in einer geraden roten Linie vom Geschlecht zum Unterbauch auf. Das Metall der Falle grub sich schnappend in das Fleisch und Genick der Ratte. Aus dem Maul des leblosen Tieres rollte der glasige Speck und über der Stelle, wo der Bügel das Fell durchschlagen hatte, wirbelten haselbraune Fasern durch die stickige Luft.

Foto: Graue moderne Fassade mit dunklen Fenstern. Hinter manchen brennt schwaches Neonlicht.

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Dock 10

„Was machen wir, wenn die Styx wirklich auftaucht?“, fragte Selma.
„Sie kommt“, antwortete Carla, „am Ende kommt sie immer.“
„In Ordnung.“ Selma drehte den Kopf nach hinten und blickte dann wieder hinaus in den Nebel, der dunkel und schwer über dem Hafen hing. „Aber was machen wir dann?“
„Da gibt‘s nichts zu machen. Wir sitzen hier und lassen den rostigen Kahn an uns vorbei schippern.“ Carla bewegte ihre Hand langsam an ihrem Gesicht vorbei und dann vorbei an Selmas, als wäre ihre Hand die Styx. „Eigentlich schwebt sie … wie ein Geisterschiff … das ist sie ja auch. Sie macht kein Geräusch. Man hört nicht einmal das Wasser gegen den Rumpf plätschern, kein Nebelhorn dröhnen, nur der Nebelscheinwerfer verglüht die Luft.“
„Wieso Verglühen?“
„Metaphorisch sozusagen.“ Carla rollte mit den Augen.
„Ist es das Licht dort vorne?“ Selma zeigte in den Nebel.
„Wenn sie kommt, merkst du es“, sagte Carla. „Das kannst du mir glauben.“
„Wieso nennt man ein Schiff nach einem Fluss?“
„Was?“
„Styx“, sagte Selma, „das ist doch ein Fluss.“
„Das musst du die fragen, die das Schiff gebaut haben.“ Carla tippte etwas in ihr Smartphone. „Es ist nicht nur ein Fluss, sondern anscheinend auch eine Göttin. Die Tochter von Okeanos und Thetys.“
„Wofür ist sie die Göttin?“, fragte Selma.
„Wie meinst du das?“
„Göttinnen sind doch immer für irgendetwas zuständig: Freundschaft, Gerechtigkeit, Liebe.“
„Das steht hier nicht“, sagte Carla. „Konzentrier’ dich lieber auf den Nebel.“ Sie steckte das Telefon ein und richtete die Augen nach vorne.
Die beiden Freundinnen saßen am Pier. Die Beine baumelten über der schroff abfallenden Betonwand, gegen die zu Zeiten, als Dock 10 noch in Betrieb gewesen war, Containerfrachter ihre Bäuche gerammt hatten. Sie rückten näher aneinander als ein kalter Windstoß über den Hafen peitschte und ein Kran heulend krähte.
„Du hast gesagt“, sagte Selma, „ich merke, wenn sie kommt. Wieso soll ich mich dann konzentrieren?“
„Ich muss dir etwas sagen“, sagte Carla ohne sich Selma zuzuwenden. „Es kommt gar kein Schiff.“ Sie senkte den Blick.
Selma schloss ihre Freundin in den Arm. Wasser trübte ihre Sicht, wieder krähten die Kräne und ihr war, als sähe sie im Nebel einen dumpfen wachsenden Schein, als höre sie die schwarze See an den Rumpf der Styx schlagen und als riefe ein Nebelhorn Carlas Namen.

Foto: Hafendock mit der Aufschrift „Dock 10“

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Else liest

Else las.
„Du sollst nicht lesen, sondern essen“, ermahnte sie der Vater.
„Noch den Absatz … Silna kämpft gleich gegen die Hydra.“ Else presste die Lippen zusammen. „Bitte.“
„Komm Schatz“, sagte die Mutter. „Dein Vater hat sich mit dem Essen solche Mühe gegeben und du lässt es kalt werden.“
Else schlug das aufgeklappte Buch auf den Tisch und brach ihm den Rücken. „Jetzt bin ich eh draußen. Kohlsprossen schmecken kalt genauso grindig wie warm.“ Sie stocherte im Püree. „Kann ich das Ketchup?“
Der Vater reichte Else das Ketchup und seufzte.
„Was gibt es da zu seufzen?“, fragte Else. Sie drückte etwas Ketchup auf die Augsburger. Die sich entleerende Tube furzte und das Ketchup sprayte den Teller voll. Sie schüttelte und drückte wieder. Ein geräuschvolles Sprühen sprenkelte das kartoffelgelbe Püree rot und die Kohlsprossen erkrankten an Masern.
Die väterliche Miene verfinsterte sich. Else nahm ein paar Bissen.
„Bin fertig, kann ich aufstehen?“

Alles vermiesten Elses Eltern ihr. Zumindest den Kampf, das große Finale des Kapitels, hätten sie ihr doch lassen können. Sie warf sich auf ihre „Die Magierinnen von Thelm“-Bettdecke und begann vom Kapitelanfang.
„Wenn ich doch einfach für immer weiterlesen könnte!“, dachte Else.
Wenigstens fand sie schnell wieder in die Geschichte. Silna hatte einen versteckten Höhleneingang entdeckt. Dort suchte sie das Herz von Thelm, ein mächtiges Artefakt, dass die alte Hauptstadt, bevor sie zerstört wurde, mit Energie versorgte.
Else blätterte um, las den ersten Absatz der nächsten Seite und den zweiten, blätterte vor, zurück und wieder vor. Ein anderer Text füllte jetzt die Seiten. Es war dasselbe Buch, dasselbe Kapitel, nur der Text hatte sich verwandelt.
Noch dazu kam in dem Text Silna, die Magierin, gar nicht mehr vor. Stattdessen bäumten sich die Köpfe der Hydra auf, stießen aus sieben Hälsen einen gellenden Schrei aus, der die Bergkristalle der Höhle zum Bersten brachte. In rauschendem Flattern jagten alle Fledermäuse auf einmal aus der Höhle. Die aufgerissenen Hydrenmäuler klafften Else sekundenlang entgegen, bevor eine leise eindringliche Stimme aus dem hintersten Hals der Bestie säuselte: „Ich segne dich Else. Du wirst den Rest deiner Tage als Lesende verbringen. Wenn du am morgen die Augen aufschlägst, wirst du lesen und am Abend werden die Buchstaben dich schlafen legen. Niemals sollen deine Augen sich vom Text lösen. Tun sie es aber doch, so wirst du zur ewigen Leserin versteinern.“
Else erschrak über die Worte und ließ das Buch fallen. Sofort versteiften sich ihr die Gelenke und ein rissiger Vorhang vergraute ihre Sicht. Mit schweren Gliedern riss sie das rettende Buch wieder auf und entzifferte mit letztem Licht die nächste verschwommene Zeile. Kaum erfasste sie den Sinn des nächsten Worts, klärte sich ihre Netzhaut und der Körper regte sich wieder.

Von diesem Tage an lebte Else in zwei Welten. Bei allem, das sie tat, hielt sie in einer Hand ein Buch. Ein zweites und drittes führte sie immer mit sich, denn sie wusste, was ihr drohte, wenn ihr die Zeilen ausgingen. Einmal hatte sie versucht, eine Schleife zu lesen, den selben Absatz wieder und wieder. Aber sofort ergriffen die Symptome der Versteinerung von ihrem Körper Besitz und sie las schnell weiter, um das Schlimmste zu verhindern.
Das Sprechen während des Lesens fiel Else schwer und sie verständigte sich mit knappen unbeholfenen Gebärden. Die Verrichtungen des Alltags, die tägliche Hygiene, das An- und Auskleiden stellten sie vor große Schwierigkeiten und an Sport oder Kinobesuche dachte sie nicht einmal mehr. Freundinnen hatte sie keine. Die anderen Jugendlichen fanden sie seltsam und wussten nichts mit ihr anzufangen. Die Eltern schickten Else in Therapie, aber die Stunden verliefen unproduktiv.

So wuchs Else auf und hätte sie nicht die lebendigen Welten ihrer Bücher gehabt, die Drachen und Zauberinnen, die Liebenden und die Leidenden, sie hätte längst vor dem steinernen Schlaf kapituliert. Aber ihre papiernen Freundinnen und Freunde, die ihr mehr aus Fleisch und Blut waren als die vorbeirauschende Wirklichkeit, spendeten ihr Trost und Hoffnung.
Else war bereits eine junge Frau, als sie eines Abends beim Spaziergang in der Stadt ihr letztes Buch aus der umgehängten Ledertasche zog. Sie klappte es auf, noch während sie das vorherige schloss und stürzte sich in die Zeilen.
Es gab Bücher, die stießen Else ab. Bücher, die sie einfach übersprungen hätte, hätte sie es sich nicht zur Gewohnheit gemacht, jedes Buch zu Ende zu lesen, das sie einmal begonnen hatte. Das ohnehin notwendige mehrmalige tägliche Buchwechseln beanspruchte sie schon genug.
Ihre Augen jagten unruhig über die Zeilen, wie eine, die in der Oktobernacht durch ein dichtes Waldstück oder eine dunkle Bahnunterführung muss. Der schnelle schritt Elses Augen sollte den Weg verkürzen. So passierte sie gebückt dasitzende Menschen, die schwarze Flüssigkeit tranken und stechend riechenden Haferbrei aßen; stürzte ohne nach links oder rechts zu sehen an verstümmelten Füchsen vorbei; lieben Tieren, deren Gesicht sich mit einem Mal nach außen stülpte. Zuletzt war es ein schlichtes, ein freundliches Bild – eines, das Else die Hölle, in die sie geraten war, ertragen lassen wollte – über das sie stolperte. Ein Dachs legt sich im Bau zur Winterruhe.

Foto: Statue mit Buch

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Murica

„Sorry, aber das ist Bullshit. That’s what it is“, sagt Jessie. „Warte, ich schalt’ dich auf Speaker, ich brauch’ eine Tschick.“ Sie legt das Handy auf den Tisch und zündet sich eine an. „Okay, bist du noch da?“
„Wie auch immer, jedenfalls hat sie das so verstanden“, sagt die Stimme aus dem Telefon.
„Maybe, aber es ist whatever.“ Sie nimmt einen Zug und klemmt die Marlboro in den Mundwinkel, holt sich ein Bier vom Kühlschrank und öffnet es.
„War das ein Bierkorken, Jessie? Willst du nicht erst ein Müsli essen?“
„Fucking Müsli“, nuschelt Jessie mit Tschick im Mund. „Ich hab’ ihr nur gesagt, dass sie es sich zu leicht macht. Die selbstgerechte Scheiße kann ich mir nicht mehr anhören.“
„Was meinst du?“, fragt die Stimme.
„Die Schimpferei auf die Welt. Das Gesudere, das fucking sich gegenseitig und selbst auf die Schulter Geklopfe.“
„Die Welt ist halt wirklich scheiße.“
„Ja, die Welt ist fucking scheiße, damnit.“ Jessie dämpft die halb gerauchte Tschick am Fensterbrett aus und schnippt sie die Feuertreppe hinunter. „I mean who does she think she‘s talking to, a fucking Nazi? I know that shit.“
„Aber sie hat es ja nicht böse gemeint. Du legst dich halt gleich mit allen an. Warum sagst du nicht einfach: du hast schon recht und so weiter. Dann kannst du immer noch kritisieren. Komm den Leuten ein Stück entgegen.“
„You gotta be kidding me.“ Sie zündet sich noch eine an. Irgendwie ist das Anzünden besser als das Rauchen. „Jesus. Fucking Amen sagen und dann leise Bullshit anmelden oder was.“
„Klingt doch ganz gut.“
„Nein. Fuck that, die kann mich mal. Ich ruf einfach nicht mehr an, ich will mit der Scheiße nichts mehr zu tun haben.“
„Mit mir auch nicht?“, fragt die Stimme beleidigt.
„Hello? Goddamn Empfang, hörst du mich?“, sagt Jessie.
„Hallo? Ich höre dich, hörst du mich?“, sagt die Stimme.
„Du, ich hör dich nicht mehr, ich melde mich morgen, gotta run.“

Foto: Schild aus Glühbirnen„Land“

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Befall

Es war ein heller Tag, den kaum eine Wolke zu trüben wagte. Die Sonne zwängte sich durch das runde Turmfenster und fiel auf Nateps Schreibtisch. Hinter dem Tisch klemmte die Alte, eingekreist von Chronographen, Zirkeln, Sextanten und Schreibutensilien – Tinte, Pergament, Messer, Feder, Lupe – und schrieb in engem Satz vollendete Buchstaben.
Seit Tagen schon wartete Hilmit auf den rechten Zeitpunkt, die Meisterin anzusprechen. Allein, einen günstigen gab es nicht. Die letzten Wochen, hatte sich Natep in Arbeiten verkrochen und Hilmit kein Fenster gelassen, nur ein Wort an sie zu richten. Für die Mahlzeiten zog sie sich in ihre Kammer zurück, wo sie vermutlich neben der Arbeit aß. Zudem schlief die Alte nicht. Wenn Hilmit aufwachte, und sie stand mit den Hühnern auf, hing die Alte schon am Schreibtisch und wenn Hilmit abends die Augen zufielen, steckte Nateps Kopf noch in ihren Manuskripten oder sie mischte im Labor bei Lampenlicht Tinkturen.
Jetzt passte es so schlecht wie immer. Hilmit näherte sich dem Schreibtisch in einem weiten Bogen, wobei sie nach und nach schwerere und festere Schritte setzte. Dann hob sie sanft an, flüsternd, beinahe unhörbar: „Meisterin.“
Natep reagierte nicht.
„Meisterin, es sind jetzt schon fünf Jahre“, versuchte Hilmit es ein zweites mal, diesmal mit Stimme.
Natep sprang mit einem Satz auf, ihr Stuhl von glühender Kohle: „Du wagst es!“
Ein dunkler Strich durchschnitt die Seite und den Tisch.
Hilmit stolperte einige Schritte zurück. „Ich wollte nicht, Meisterin.“
Da entspannten sich Nateps Gesichtszüge, wiewohl sie heftig atmete und die Hand zitterte, in der die helle Gänsefeder hing, von der schwarze Tinte auf den Dielenboden tropfte. „Meine liebe Hilmit. Du weißt, wie ich bin: ich kann nicht anders.“
„Nein, es ist meine Schuld“, sagte Hilmit. „Ich werde euch die Seite noch heute neu schreiben. Wenn es sein muss, sitze ich die Nacht und den nächsten Tag.“
Nateps Miene verdüsterte sich. „Das kannst du nicht. Die Seite ist Teil eines größeren Werkes und deine Hand – so geschickt sie auch sein mag.“ Sie stockte. „Deine Hand ist nicht die meine.“ Sie legte die Feder auf den Tisch. „Wenn du mich störst, muss es wichtig sein. Was ist es, stimmt etwas mit dem Beinwell nicht, ist er wieder befallen?“
„Den Kräutern geht es gut.“ Hilmit sah verlegen auf den Boden. Dann hob sie den Kopf und blickte Natep in das Auge. „Es sind jetzt fünf Jahre. Ihr sagtet, ihr wollt keine Hexenmeisterin sein. Ist es nicht schließlich Zeit, sodass ihr mir die Spitze des Turms zeigt?“
„Ihr wisst, warum ich nicht kann“, sagte Natep. Sie senkte den Kopf an die Brust und sprach wie zu sich selbst: „Wenn wir unser Training darauf abstimmten, dann wäre es auszuhalten. Mag sein ich habe ich mich in Arbeit verkrochen, um den Zeitpunkt hinauszuschieben. Vergessen habe ich dich nicht.“ Sie ging zu den Büchern und legte einen kupferbeschlagenen Folianten auf den Ecktisch.
„Die Bilder kenne ich bereits“, sagte Hilmit. Ihre Stimme verbarg schlecht ein Klagen und Flehen.
„Na – na – na“, sagte Natep. Die tröstende Formel geriet ihr zur gespenstischen Ermahnung. „Ich bin alt, aber noch nicht verkalkt. Ich weiß, was du kennst.“ Sie öffnete die Verschlüsse des Folianten und schlug eine Seite auf. „Ich habe dir das Bild gezeigt. Vielleicht kennst du es mit geschlossenen Augen.“ Sie legte ihrer Schülerin die Hand über die Augen. „Was siehst du?“
„Eine Frau. Sie ist furchtbar verwandelt. Statt Haut hat sie Schuppen, verknöcherte Klauen mit gekrümmten Krallen, die ihr in die Arme wachsen. Die Zähne vernähen ihre Lippen zu einer geschlossenen Fratze. Nur ihr linker Fuß –“ Sie stockte. „Ihr linker Fuß ist zierlich wie der eines Knabens, fein und ebenmäßig und von weicher Haut.“
„Was siehst du noch?“, fragte Natep.
„Ihre Augen, aus ihrem rechten züngelt eine spitze Flamme. Das andere ist stumpf und leer – das Auge einer Toten.“
Natep nahm die Hand vom Gesicht der Schülerin und strich dabei zärtlich über Hilmits Wange. „Du kennst das Bild, aber verstehst es nicht. Ich fürchte ich habe dir nicht alles gesagt.“ Natep blickte nachdenklich auf die Frau im Bild. „Vielleicht bin ich doch eine alte Hexenmeisterin.“ Beim Wort Hexenmeisterin drehte sie sich ihrem Lehrling zu und raunte Hilmit ins Gesicht: „Wer ist die Frau, du kennst sie, wer ist sie?“
Hilmit spürte den Atem der Meisterin in ihrer Augenhöhle. „Ihr seid es“, sagte sie. „Ist es nicht so? Das Bild zeigt euch.“
Sie wollte sich ducken, aber die Alte hielt sie fest im Nacken. „Nein, Hilmit, liebes Kind. Ich bin es nicht.“

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Die Bärin

Eine Frau gerät beim Wandern im Wald in einen Sturm. Der Regen fällt als dicke schwere Tropfen. Die nächste Hütte ist nicht weit, der Weg leicht. Aber ein Braunbär bäumt sich auf, zwingt sie in die falsche Richtung, jagt sie auf eine Eiche. Der Bär stößt mit der Seite gegen den morschen Stamm. Der Baum wackelt. Das Tier rammt wieder gegen den Stamm, der kracht und bricht. Die Frau fällt und verletzt sich am Knöchel.

Sie stürzt humpelnd in das Dickicht. Ein Dachsbau verspricht Schutz. Sie kriecht in das Loch doch der Bär findet sie, gräbt ihr mit schweren Pranken nach. Die Frau entdeckt einen zweiten Ausgang und zwängt sich durch die Öffnung ins Freie. Der Bär kann ihr nicht folgen, steckt im Bau fest. Die Frau bedeckt ihn mit Laub und Ästen. Sie häuft immer mehr über das kämpfende Tier. Der Bär brummt, der Boden zittert. Ein Röcheln und Wimmern dringt aus der Erde und verstummt endlich. Sie schleppt sich zur rettenden Hütte.

Sie habe Glück gehabt, sagt ihr die Wirtin. Im Wald gebe es eine Bärin, mit der nicht zu spaßen sei. Sie habe gerade Junge.

Foto: Wurzel